Sonntag, 31. Oktober 2010

Knochenarbeit


Einmal im Leben selber Oliven ernten, und das an einem so symbolischen Ort wie dem Ölberg: Manch eine romantische Vorstellung hat dabei vermutlich eine leichte Korrektur erfahren. Nach einer kurzen Einweisung durch Samir und seinen Kollegen machen wir uns an die Arbeit. Das Wetter ist zum Glück auf unsrer Seite. Hatte es am Morgen noch nach einem kräftigen Regen ausgesehen, bleibt es sonnig-klar und nicht zu heiss, und der Blick über die judäische Wüste bis zum Toten Meer ist atemberaubend.
In kleinen Gruppen zu zwei oder drei Freiwilligen pro Baum legen wir Planen und alte Gardinen aus. Es hat seit Monaten nicht richtig geregnet, entsprechend staubig und struppig ist unser Arbeitsplatz. Wer Glück hatte, hat einen kleinen Rechen oder wenigstens einen Handschuh ergattert, die meisten arbeiten mit blossen Händen. Alle Oliven müssen runter, ob verdorrt, reif oder noch grün. Sortiert wird später. Je nach Lichteinfall und Perspektive ist es gar nicht so einfach, die Früchte in den hundert Jahre alten, knorrigen Bäumen zu entdecken. Was am Baum noch nach einer mageren Beute aussieht, läppert sich schliesslich doch zu Eimern und schliesslich Säckeweise Oliven zusammen.
Nach der Mittagspause geht es weiter mit den grösseren Bäumen. Jene Zweige, die trotz klettern in der Baumkrone nicht erreichbar sind, werden kurzerhand gestutzt und am Boden abgeerntet. Trotz aller Begeisterung für die ungewohnte Arbeit lässt im Laufe des Nachmittags und nach dem xten Baum die Motivation deutlich nach, und schliesslich sind doch alle froh, das endlich die Sonne untergeht. Verschwitzt, verdreckt von acht Stunden körperlicher Arbeit und mit zerkratzten Armen und Beinen wächst die Wertschätzung für das Produkt Olivenöl deutlich.


Freitag, 29. Oktober 2010

Vermintes Terrain


"Ihr habt nicht das Recht, hier zu photographieren, dies ist orthodoxes Land. Geht rüber zu den Katholiken!" Die Reaktion des russischen Geistlichen am Jordan ist heftig und aggressiv. Als die Photographen sich davon nicht beeindrucken lassen, schlägt er ins Wasser und spritzt in Richtung der Kameras. Was wiederum den Aggressionspegel auf der Seite der Photographen steigen lässt. Die Situation ist derart angespannt, dass auch das vermittelnde Eingreifen einer Kollegin von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Fühlt sich der Geistliche durch das als zu aufdringlich empfundene Verhalten der Photographen provoziert oder ist deren israelische Nationalität der Auslöser für seine Aggression? Sind es konfessionelle zwischen Orthodoxen und Katholiken Streitigkeiten, wie sie hier nicht so selten sind, oder geht es gegen Juden? Es scheint jedenfalls dass das Warnschild "Danger. Mines!" mehr als nur im wörtlichen Sinne verstanden werden kann.


Donnerstag, 28. Oktober 2010

Vertauschte Rollen

Gaza, die Beduinenmafia und angebliche Sexparties an der Strasse zum Toten Meer: Smalltalk der beiden Kameramänner bei unserer Fahrt an den Jordan. "Entlang der ganzen Grenze des Gazastreifens nach Ägypten reiht sich ein Tunnel an den nächsten, manche so gross, dass ganze Autos hindurch passen." Andrea, der Italiener, der das ganze eher als ein sportliches Abenteuer zu nehmen scheint, erzählt von seinen Tunnelbesichtigungen, von "Internationals", die sich für 200 Dollar in den Gazastreifen schmuggeln lassen, von den vermummten Dschihad-Kämpfern, die bewaffnet durch Rafah streifen. Yousef, der Palästinenser, der seit 5 Jahren nicht in Gaza war und auch nicht verstehen kann, warum um Himmels Willen ein Mensch freiwillig seinen Fuss hineinsetzt, hört ungläubig zu, wie ihm sein ausländischer Kollege sein Land "erklärt".

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Sacerdoti di pace


Sport verbindet. In Bethlehem ist gestern eine Priester-Elf gegen eine palästinensische Nationalauswahl angetreten. Dass das Endresultat für die Kirchennmänner aus Italien in einem 9:1-Desaster endete, tat der Spielfreude und vor allem der Stimmung keinen Abbruch. Die Herren in Gelb hatten die Sympathien des Publikums eindeutig auf ihrer Seite. Das Publikum selbst bot für Europäer einen eher ungewohnten Anblick: italienische Ordensfrauen, kopftuchtragende Palästinenserinnen, Franziskanerpadres, Männer mit Kaffiyeh, dem traditionellen Palästinensertuch. Und statt Vuvuzelas und Fangesängen gab es Pfadfinder mit Dudelsack und Trommeln...




Dienstag, 26. Oktober 2010

Geteiltes Leid


Die Schlange vor der Geburtsgrotte in der Bethlehemer Geburtskirche ist in diesen Tagen noch länger, als üblich. Nicht in erster Linie, weil durch die Herbstferien in vielen Ländern die Pilgerströme deutlich zugenommen haben. Die Vorarbeiten zur Restaurierung der historischen Kirche haben jetzt auch sichtbare Formen angenommen: Ein riesiges Gerüst bis unter die Decke erfüllt den Raum; Pilger und Touristen müssen sich durch den schmalen Korridor drängen. Doch nicht nur die schlangestehenden Besucher leiden. "Am liebsten hätten wir die Kirche leer, aber das steht nicht in unserer Macht", scherzt einer der italienischen Experten, die derzeit die verzierten Oberflächen des Innenraums untersuchen. Immer wieder klettern Besuchergruppen über die Absperrung, denn natürlich ist das Stück vom Mosaik, an dem die Forscher arbeiten, tausendmal interessanter als der für jedermann und jeder Frau zugängliche Ausschnitt. Einmal mehr bin ich froh um meinen Presseausweis, der mir – ganz legal – das Durchqueren des abgesperrten Raums ermöglicht. Nur auf das Gerüst darf ich leider nicht.


Montag, 25. Oktober 2010

Für alle Sinne


Gut ein Dutzend Frauen und ein Mann sind in der Magdalenen-Kirche am Ölberg zur grossen Vesper zusammengekommen. Welten liegen zwischen der andächtigen Stille in dem russisch-orthodoxen Frauenkloster und den russischen Pilgergruppen, die geschäftig-lärmend und nicht selten knapp bekleidet über die Via Dolorosa oder in die Grabeskirche drängen. Der harmonische, fast schon schlichte Raum ist spärlich mit Kerzen erleuchtet, die Ordensfrauen sitzen für uns kaum sichtbar in einer Nische der Kirche.
An die Vesper schliessen sich das nächtliche Psalmengebet und das Morgenlob an, mehr als drei Stunden dauert das Gebet, ohne dass die Anwesenden unruhig auf ihrer Bank umherrutschen. Wer genug gebetet hat, geht wieder, und auch während des Gottesdienstes kommen immer wieder Personen dazu. Von Zeit zu Zeit löst sich jemand aus der Gruppe der Anwesenden und setzt sein Gebet vor einer der Ikonen fort. Die ruhigen Gesänge der Frauen, dann und wann unterbrochen durch das Gebet des Priesters, Weihrauch, das flackernde Licht der Kerzen, die natürlich fliessenden Bewegungen der Betenden um uns herum, die sich immer wieder bekreuzigen und dabei bis zum Boden verneigen: Alles ist in Bewegung und atmet gleichzeitig Ruhe und Andacht.


Sonntag, 24. Oktober 2010

hors de question


Zu Fuss querfeldein nach Bethlehem. So lautete unser Plan. Vom Zion geht es los Richtung Silwan, danach über eine schöne Promenade Richtung Uno-Gebäude. Aus dieser Richtung bekommt man noch mal einen ganz neuen Blick auf die Altstadt und den Ölberg - und eine Ahnung davon, wie es früher gewesen sein muss, wenn man nach einer langen Reise einen ersten Blick auf die Stadt werfen konnte. Weiter geht es durch abwechselnd arabisch und jüdisch bewohntes Gebiet, meist auf den ersten Blick zu erkennen,; die Mauer, die Bethlehem von Jerusalem trennt, immer vor uns. Als wir nach ein paar Stunden Laufen auf Sicht und ohne Karte ein paar palästinensische Frauen nach dem (Fuss)weg nach Bethlehem fragen, ist die Irritation gross. Sie weisen uns eine ungefähre Richtung und deuten an, es seie weit. Wir laufen eine Weile weiter und fragen erneut eine Passantin, dann einen Passanten nach dem Weg. Übereinstimmend schicken sie uns zurück in die Richtung aus der wir kamen - bis wir schliesslich darauf kommen, dass jeder, den wir nach dem Weg nach Bethlehem fragen, uns den kürzesten Weg zur nächsten Bushaltestelle beschreibt. Von Jerusalem nach Bethlehem sind es keine zehn Kilometer, aber es fiele niemandem im Traum ein, die Strecke zu laufen.

Samstag, 23. Oktober 2010


Auch Diplomaten gehen heute mit der Mode ...

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Symbolisch


Er gilt als Zeichen des Friedens, aber um seine Früchte wird seit Beginn der Ernte vor zwei Wochen ähnlich aggressiv gestritten wie ums ganze Land: Die diesjährige Olivenernte ist nach israelischen Zeitungsberichten die gewalttätigste seit Jahren. Da werden in nächtlichen Aktionen Bäume abgeholzt, vergiftet oder abgefackelt – und mit ihnen die Existenzgrundlage vieler Bauern. Über 500 Bäume in palästinensischem Besitz und 100 jüdische Bäume sind den Vandalenakten bislang zum Opfer gefallen, sagen israelische Medien. Glaubt man den palästinensischen Medien, geht es um über 3.500 Bäume. Dabei wäre 2010 eines der besten Erntejahre der letzten Zeit.

Montag, 18. Oktober 2010


Abenteuer Palästina

Es ist vor allem die unglaubliche Gastfreundschaft, die unsere Wochenendtour durch die Palästinensergebiete um Nablis und Jenin prägt. Es ist beinahe unmöglich, unser Frühstück auf dem Markt einzukaufen. Die Bananen sind ein Geschenk für uns, die Kiwi und die Khaki und auch das Brot. Und überall die gleiche stolze Frage, wie es uns in Palästina gefällt. Was wir über die Palästinenser denken. Oft verbunden mit dem Wunsch, wir mögen doch zuhause darüber berichten. Wo immer wir an einem Marktstand stehenbleiben, sammeln sich ein paar Männer, um uns in ihrem Land Willkommen zu heissen und mit uns ins Gespräch zu kommen. Häufig sehr gestenreich, denn unsere Arabischkenntnisse und ihre Englischkenntnisse reichen nicht immer aus.


Ein Kleinwarenhändler in Nablis lässt seinen Laden Laden sein, um uns "seine" Moschee zu zeigen. Ein Arbeiter in der kleinen griechischen Kirche in Burqin unterbricht für uns seine Ausgrabungen, um uns – als ersten Aussenstehenden – seinen Fund des Vortrags zu zeigen: Das Grab eines Bischofs, vermutlich aus dem 16. Jahrhundert. Begeisternd und begeistert erklärt er uns die Geschichte der Kirche, zeigt uns die alte Zisternenanlage, in der die Mönche in Zeiten der Verfolgung Messen feierten. In der Zwischenzeit trifft der Professor ein, der die Altersbestimmung des Grabes vornehmen soll. Weil unsere nächste Station "auf seinem Weg liegt", nimmt er uns mit. Nicht ohne eigens für uns einen kleinen Umweg zu fahren und uns das Flüchtlingscamp und die Kampfzone von 2002 zu zeigen. Aus beinahe jedem Kontakt ergibt sich ein interessantes Gespräch, und die Zeit vergeht so schnell, dass wir uns am Abend wirklich beeilen müssen, um überhaupt noch eine Rückfahrt nach Qalandia zu bekommen.

Männerwelten


Meine Begleiter wollen ins Hamam. Männerbadezeit. Als einzige Frau setze ich mich in den Vorraum des Bads und warte auf die zwei. Café, Treffpunkt, Friesiersalon - in dem kleinen, gemütlichen Raum herrscht ein reges Kommen und Gehen, und die Atmosphäre ist äusserst entspannt. Hier wird getratscht, Wasserpfeife geraucht, beim Rausgehen mit einem langen Blick in den Spiegel ein letztes Mal die Gelfrisur gecheckt. Ins Handtuch gewickelt erholt Mann sich von der Schwitzkur im Dampfbad, streckt sich zum Schlafen auf die Kissen. Dann und wann wird ein Gebetsteppich inmitten der kleinen Tische ausgerollt. Von meiner Anwesenheit lässt sich ganz offensichtlich niemand stören.

Samstag, 16. Oktober 2010

Sorgenfrei


Gibt es ein sorgenfreies Paradies? Und warum ist das Leben so voller Probleme? Diese Fragen, die manch einem in dieser instabilen Region mehrmals täglich durch den Kopf gehen mögen, springen uns auf der Broschüre ins Auge, die uns zwei tadellos gekleidete Jünglinge in die Hände drücken. Die Lösung aller Probleme, glaubt man besagtem Heftli, ist ganz nahe. Genau genommen drei Seiten weiter. Man muss nur den Innenteil mit Horrormeldungen und entsprechend anschaulichen Bildern von verhungernden Kindern, roher Gewalt und Naturkatastrophen überblättern … Lest die Bibel (natürlich so, wie der Urheber der Broschüre sie versteht), und das sorgenfreie Paradies ist Euch sicher! Eine verlockende Botschaft inmitten dieser Krisenregion. Doch gerade missionierende Gruppen wie diese destabilisieren den Nahen Osten noch mehr als eh schon.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Stranger than fiction

Musik verbindet Menschen und Völker. Pflegen zumindest Musiker gerne zu sagen. Manchmal kommt dabei eine ziemliche Kakophonie heraus. Wie heute Abend im christlichen Altstadtviertel. Im Untergeschoss der Franziskaner probt der (multinationale) Chor. Zwei Etagen höher, in der Kirche, ertönt derweil ein Orgelkonzert. Der (deutsche) Organist greift in die Tasten, dass es auch auf der Strasse davor noch deutlich zu hören ist. Im Gebäude vis-à-vis proben derweil die (arabischen) Pfadpfinder der Pfarrei mit Trommel und Dudelsack für ihren nächsten Einsatz. In der schmalen Gasse zwischen beiden "Lärmquellen" sitzen drei junge (israelische) Sängerinnen in mittelalterlicher Gewandung und warten auf ihrern Einsatz.
Ein paar Meter weiter: Ein Strassenmusikant in voller Aktion, dann ein Leierkastenmann und schliesslich zwei Minnesänger. Die Gasse wie überhaupt das ganze christliche Viertel werden derweil mit mittelalterlicher Fidel- und Flötenmusik beschallt. Zwischendrin sitzen ein paar Araber wie jeden Abend bei ihrer Wasserpfeife und sehen aus, als gehörten sie in eine andere Welt.



Belohnung



Mittwoch, 13. Oktober 2010

Erstaunen, Unverständnis, Entsetzen

Neugierig schauen die Jungs im Bus auf meine Vokabelkarten. Dass jemand freiwillig Arabisch lernt, kann offenbar auch die Frau neben mir nicht recht verstehen und wünscht mir, mit hochgezogener Augenbraue, "good luck". Noch mehr Unverständnis ernte ich von meiner jüdischen Fechtpartnerin. Das sei nicht fair, ich solle stattdessen Hebräisch lernen, so ihre klare Ansicht. Meine "Klientel" seien nun mal vor allem arabischsprachige Christen, versuche ich zu erklären, aber sie lässt nicht locker. Ich solle wenigstens erst Hebräisch lernen und dann Arabisch (wäre sowieso viel einfacher so). Wie ich in dieses Land kommen kann, um dann "doch nur" über Araber zu schreiben, übersteigt ganz offensichtlich ihr Vorstellungsvermögen.
Immerhin scheine ich ihr Interesse geweckt zu haben. Ob ich denn auch in Städte fahre, die "nur von Arabern bewohnt" sind, will sie nach dem Training wissen. Ich bewege mich im ganzen Land, also auch in Ramallah, Nablus oder Bethlehem, erkläre ich ihr. Und treffe dort nette, offene und herzliche Menschen. Ihr Gesicht spiegelt für einen langen Moment blankes Entsetzen. Dann entspannt sie sich: Klar, ich sei ja als Journalistin bekannt und hätte sicher einen grossen Security-Stab um mich herum. Wieder muss ich sie enttäuschen. Weder mit Bodyguard noch mit Schild um den Hals "Nicht-Jüdin und Journalistin".
Immerhin. Nach einer längeren Denkpause sagt sie, vielleicht würde man hier ja doch immer nur das Schlechte im Anderen sehen. Aber so ganz überzeugt klingt es noch nicht.

Insel-Dasein

Angekündigt war das Konzert in der evangelischen Himmelfahrtkirche der Auguste Victoria im palästinensischen Veranstaltungskalender unter dem Titel "Behind the wall", eine "elektrifizierende Oper" sollte es sein. Komponiert von einem palästinensisch-israelischen Künstler. Wie nahe liegt die Erwartung, mit einer spannenden musikalischen Auseinandersetzung mit dem israelischen Sperrwall konfrontiert zu werden, noch dazu an einem Ort, an dem man nur den Blick heben muss, um auf die Mauer Richtung Bethlehem zu schauen.
Weit gefehlt. Der musikalische Leiter und Dirigent des Projektes ist (Ost-)Deutscher, ebenso der Dichter. Der Künstler mit dem eindeutig arabischen Namen lebt seit fast zwanzig Jahren in Deutschland und hat dort sein Handwerk gelernt. Dass Orchester und Chor aus Deutschland stammen, war bereits der Vorangekündigung zu entnehmen. Dass auch das Publikum fast ausschliesslich aus Deutschen bestand, war vielleicht zu erwarten.

Dass sich aber hinter dem Titel "Behind the wall" eine Auseinandersetzung mit der Berliner Mauer verbergen würde, die anlässlich der zwanzig Jahre Wiedervereinigung entstanden ist, kommt überraschend. Umso mehr, als der (anwesende) Komponist im einleitenden Gespräch betont, seine Nationalität oder der israelisch-palästinensische Konflikt hätten für seine Kompositionsarbeit keinerlei Rolle gespielt. So sitzt also ein alles in allem deutsches Publikum in der Kirche der deutschen evangelischen Kirche und setzt sich einundzwanzig Jahre nach ihrem Fall mit der deutschen Mauer auseinander. Die andere Mauer, für den Grossteil des sehr jungen Publikums viel realere, ist in Sichtweite und bleibt unsichtbar.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Remember this day

"Erinnert euch an diesen Tag. Dies ist der Tag, an dem Israel seinen Charakter verändert. Als Resultat könnte es auch seinen Namen ändern in Jüdische Republik Israel, so wie die Islamische Republik Iran. Zu verdanken dem Gesetzentwurf zum Loyalitätseid, den Premierminister Benjamin Netanjahu zur Verabschiedung gebracht hat. Wie man sagt, betrifft er nur Neubürger, die nichtjüdisch sind. Aber er beeinträchtigt unser aller Schicksal. Von nun an werden wir in einem neuen, offiziell bestätigtem ethnokratischen, theokratischen nationalistischen und rassistischem Land leben."
Haaretz-Kolumnist Gideon Levy in Reaktion auf den Regierungsbeschluss, von nichtjüdischen Anwärtern auf die israelische Staatsbürgerschaft zukünftig einen Treu-Eid auf den "jüdischen demokratischen Staat" Israel zu verlangen.
Der gesamte Beitrag bei Haaretz

Allah

Sonntagsgottesdienst bei den Syrisch-Katholischen. Obwohl die Gemeinde nur noch eine kleine Zahl von Familien umfasst, ist die kleine Thomas-Kirche im Osten der Altstadt gut gefüllt (Wie wir später erfahren, ist der grössere Teil der Gottesdienstbesucher eine kanadische syrisch-katholische Reisegruppe - zu unserem Vorteil, wird doch die arabische Predigt auf französisch knapp zusammengefasst). Der Gottesdienst beginnt, obwohl ganz offensichtlich noch nicht alle Geistlichen da oder parat sind, aber das stört niemanden. Anders als bei uns, gehört hier das Filmen und Fotografieren zum guten Ton.
Es wird inzensiert, was das Zeug hält, und auch an akkustischen Reizen in Form von Schellen und Glöckchen ist die Feier nicht arm. Gesprochenes Wort gibt es wenig, stattdessen wird viel gesungen. Es ist ungewohnt, das Wort Allah in einer christlichen Kirche zu hören. Noch unerwarteter ist der zum Sanctus plötzlich einsetzende Klang der kleinen E-Orgel, der so gar nicht zur orientalischen Melodik der Gesänge passen will.
Nach dem Gottesdienst trifft man sich zum Kaffee in der "Lounge", unter den Porträts der Patriarchen. Ein Kanadier erklärt uns, in Montreal gebe es die grösste syrisch-katholische Gemeinschaft überhaupt, Tendenz steigend, weil viele syrisch-katholische Christen ihre Heimatländer Irak und Libanon verlassen. Nur die Sprache, aramäisch, verstehen heute die wenigsten, ob in Kanada oder andernorts, deshalb spielen sich weite Teile des gottesdienstlichen Lebens auf Arabisch ab.

Freitag, 8. Oktober 2010

Montag, 4. Oktober 2010

Schattenseiten

Meine Nachbarn laden mich zum Tee ein. Drei Generationen wohnen unter einem Dach. Das Leben spielt sich viel in dem kleinen Vorhof ab. Hier wird gespielt, gesessen, Tee getrunken. Weil es das Klima erlaubt. Aber auch, weil die Familie in einer kleinen Wohnung mit nur einem Fenster wohnt. Seit über vierzig Jahren, und seit fünfzehn Jahren hoffen sie, über die Kustodie an eine bessere Wohnung zu gelangen. Was geht wohl in ihnen vor, wenn ich, die Fremde, ganz für mich alleine eine grosse Dachwohnung mit Terrasse beziehe, die sicherlich doppelt so gross ist als die ihre? Oder wenn sie hören, dass 68 andere Familien gerade ihre grosse, schöne und vor allem bezahlbare Neubauwohnung beziehen?
Das Glück der einen und der Frust der anderen liegen hier nah beieinander. Besonders verbittert ist der Grossvater: Ob ich die Familien in Betfage gesehen habe, will er wissen. Auch ihre Autos? Diejenigen, die dort wohnen werden, verdienen genug, um sich anderswo eine gute Wohnung leisten zu können, lautet der Tenor. Wer hat, dem wird gegeben, und den wirklich Armen, die vor der Kustodie warten, um ihre Sicht der Dinge darzulegen, denen hört keiner zu. Wie viel von der Klage ist Frust, und wo liegt der wahre Kern? Es ist schwierig, sich hier ein eigenes Bild zu machen, denke ich – und traue mich nicht so recht, meine Nachbarn zum Gegenbesuch einzuladen.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Sonntagmorgen in Jerusalem

Ein paar Minuten nach vier in der Früh. Noch vor Anbruch der Dämmerung ertönt der Ruf des Muezzin zum Morgengebet. Etwa eine Viertelstunde lang klingt der ruhige Gesang durch die Nacht. Die Vögel meines Nachbarn fangen begeistert an, mitzusingen - da sie gerade unterhalb meines geöffneten Fensters sitzen, ist an Schlafen erstmal nicht mehr zu denken. Mit dem Muezzin verstummen auch die Piepmätze wieder, es ist ja schliesslich noch dunkel draussen. Bis um sechs die benachbarte Franziskanerkirche als erste ihre Glocke ertönen lässt. Zunächst den Stundenschlag, dann das Geläut zum ersten Gottesdienst. Dazu wieder Vogelgetzwitscher. Für einen kurzen Moment ist es wieder still (mit Ausnahme der Vögel, denn inzwischen ist es ja hell), dann läuten die anderen Kirchen ringsrum zum Sonntagsgottesdienst. Wenn die verschiedenen Glocken durch sind, kommen die ersten meiner Nachbarn schon vom Kirchgang zurück, und der Glockenschlag wird vom hellen Lachen der spielenden Kinder abgelöst.

Samstag, 2. Oktober 2010

Oktoberfest


"Taste the revolution" steht auf dem T-shirt eines Besuchers. Tatsächlich hat es etwas von Widerstand, im doppelten Sinne, wenn der einzige fast vollständig christliche Ort in ganz Palästina zum Oktoberfest einlädt - umgeben von muslimischen Nachbarn und unter israelischer Besatzung...
Auch wenn sich der ein oder andere "Bayer" nach Taybeh verirrt - schliesslich die einzige Brauerei im Nahen Osten, die nach bayerischem Reinheitsgebot braut -, ist die Stimmung doch durch und durch orientalisch: Folklore- und Tanzgruppen, Falafel-Buden, Shewarma-Stände und vor allem Palästinenser-Tücher und -Flaggen en masse. Das Publikum hingegen ist international, und weil die Kirche nunmal ein Dorf ist, trifft man auf viele bekannte Gesichter.