Freitag, 1. November 2019

Lichtsphären


Weite weiß Hose, weißes Hemd, tiefer Ausschnitt. Lange dunkle Locken fallen über die Schulter, der grau durchsetzte Bart rahmt das Lächeln. "Hier in Jerusalem atmet meine Seele tiefste Heimat", sagt Yvelle Gabriel. Andernorts ginge der in Mainz geborene Künstler vielleicht als Hippie oder Aussteiger durch. In dem kleinen Café in Ein Karem hingegen zieht er die Aufmerksamkeit der christlichen Pilger auf sich, die den Spuren Johannes des Täufers folgen. Manche greifen zur Kamera. Manch einer mag wohl an Jesus denken. Doch Yvelle Gabriel ist kein weiterer Fall des "Jerusalem-Syndroms", wie Jerusalemreisende bezeichnet werden, die sich in vorrübergehendem religiösem Wahn mit biblischen Personen identifizieren. Für den 50-Jährigen, der sich selbst in der Tradition der Urchristen versteht, ist das Heilige Land vielmehr "als paradoxester Ort der Welt mein eigener heiliger Spiegel". Wenn überhaupt könne hier, am "Bauchnabel der Welt" Reinigung und Heilung geschehen. Seinen Beitrag dazu sieht Gabriel im Erschaffen "heiliger und beseelter Räume", wie etwa der künstlerischen Gestaltung des unlängst eröffneten unterirdischen Friedhofs. Kraft habe Jerusalem nicht zuletzt deshalb, "weil Menschen ihren Glauben und ihre Liebe hineingelegt haben". Und es weiterhin Tag für Tag tun, wie die Pilger, die auf dem Weg durch Ein Karem innehalten ob der ungewöhnlichen Gestalt in dem kleinen Café. 


Freitag, 27. September 2019

Freund der Kätzchen


 
Montag, Mittwoch, Freitag: Dreimal wöchentlich macht Ghassan Younes sich von Arara im Norden Israels aus auf nach Jerusalem, 115 Kilometer pro Strecke. Die Nacht zu Samstag verbringt er am Ort. Wenn der 71-Jährige durch das "Bab al-Huta", das Tor der Vergebung" den Tempelberg betritt, muss er nicht lange warten. Hinter dem Tor warten die Schüler auf den weißbärtigen Muslim in traditioneller Kleidung. Dann setzt er die Plastiktüten ab, lässt den Rucksack vom Rücken und die Hand in den Rucksack gleiten. Von Karamell über Schokolade bis zu kleinen Geschenken reicht der verborgene Schatz. Wenige Meter weiter warten die Vierbeiner auf ihren Freund. Diesmal gleitet die Hand in eine der Plastiktüten, Fleisch, gerade noch frisch geschnitten, wird sorgsam an die Tempelbergkatzen verfüttert. Nur der rote Kater, sagt Ghassan, der interessiert sich nicht für das Futter. Im Gleichschritt folgt der Tiger dem Mann zur dritten Station: Neben dem Felsendom wirft Ghassan Körner in die Luft, zur Freude des Katers, der nach dem anrauschenden Federvieh jagt. Abu Huraira nennen sie ihn, Vater der Kätzchen, wie den engen Gefährten des Propheten. Mohammeds besondere Liebe zu Katzen ist es, die Ghassan zu den Fütterungen motiviert: "Es gibt mir die Gelegenheit, ein besserer Muslim zu sein". Die Menschen lächeln, wenn sie Ghassan sehen. Er lächelt zurück: "Das ist doch die beste Medizin der Welt."

Freitag, 24. Mai 2019

Seltsam harmonisch

Ein freundliches Miteinander zwischen Menschen verschiedener Religionen und Ethnien ist etwas, das den Jerusalemer Alltag nicht oft prägt. Gemeinsam genutzte Räume sind rar, ein Satz, der noch einmal wahrer ist als ohnehin schon, schaut man in den religiösen Teil der Bevölkerung. Als positive Ausnahme dieser Regel erweist sich der Vorraum des Operationssaals im religiös-jüdischen Krankenhaus "Shaare Zedek" – "Tore der Gerechtigkeit".
Chefzi heißt meine Heldin an diesem Morgen. Nicht nur setzt sie meiner sich minütlich ins Panikartige steigernden Unruhe unermüdlich ihre gute Laune entgegen. Der Humor der Krankenschwester und ihr zielsicherer Umgang mit den unterschiedlichen Charakteren um sie herum verzaubern den Raum. Da sind die russischstämmige Anästhesistin, der äthiopischstämmige Pfleger, die arabischen Assistenzärzte. Die sich zwischen originell und skurril bewegenden Kopfbedeckungen tüpfeln Individualität in die einfarbige Welt der OP-Bekleidung. Zusammen geben sie ein seltsam harmonisches Bild: Anders. Und doch gleich.


Das letzte, das mein Bewusstsein in der einsetzenden Betäubung noch aufschnappt, sind der Ramadanscherz der jüdischen Chirurgin und das herzliche Lachen des muslimischen Kollegen. Ein Krankenhaus ist der Ort, an dem ich gar nicht erst sein müssen will. Einmal drinnen, erwies es sich im Fall von Shaare Zedek in Jerusalem aber als herzerwärmende Erfahrung.

Montag, 20. Mai 2019

Jahreskreis

Gelb leuchtet der Weizen auf dem Streifen Land zwischen Autobahn und Schnellstraße. Darinnen: Drei weiße Flecken, die wie das Getreide im lauen Lüftchen zittern. Auf den ersten Blick könnte man sie für Vogelscheuchen halten. Beim näheren Hinsehen haben die vermeintlichen Vogelscheuchen Bärte und die lange Schläfenlocken strengreligiöser Juden. In der Mittagssonne, mitten in der ersten Hitzewelle des Jahres, eingehüllt in den Tallit, den jüdischen Gebetsschal mit den charakteristischen Fransen an seinen vier Ecken, bewegen sie sich langsam durch die Furchen.
Auf den 50. Tag nach Pessach, in diesem Jahr den 9. Juni, fällt das jüdische Wochenfest "Schawuot", Zeit der Weizenernte. Der Weizen in diesem Feld, dessen Ähren dem kritischen Blick der Männer standhalten muss, soll im nächsten Jahr zum Backen der am strengsten kontrollierten, ungesäuerten Pessachbrote – der sogenannten Schmura-Matzen – dienen. Dafür muss das Korn an der Ähre reifen. Erst, wenn es einen niedrigen Feuchtigkeitsgrad erreicht hat, darf es geerntet werden, auf die Gefahr hin, dass später Regen den Weizen für seine besondere Bestimmung unbrauchbar macht.
Und so schließt sich, auf einem Weizenfeld inmitten der Auswüchse der modernen Welt, mit einem archaisch anmutenden Ritual der ewig währende Kreislauf der Gläubigen: Grad einen Monat ist das Pessachfest vorüber, und schon geht es an die Vorbereitung des nächsten Pessachfests.