Freitag, 17. April 2020

Dem Balkon sei Dank

Auf Ostern in Jerusalem folgt bei mir üblicherweise ein kleines Loch. Runterfahren von der Intensität, die diese Tage am Originalschauplatz bieten. Dass es diesmal so heftig ausfallen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Schon mit meiner Erwartung eines entschleunigten Ostern lag ich daneben. Gefeiert wurde ja trotzdem, nur anders. Die einzigartige Situation brachte genug Arbeit mit sich - nur ohne die über Jahre angehäufte Routine.
Sechs Wochen dauern Quarantäne, gefolgt von immer schärferen Einschränkungen, nun schon an - bis hin zu wiederholten völligen Ausgangssperren. Die Spannungen sind seither spürbar gewachsen, ebenso die Präsenz von Militär und Polizei in den Straßen. Die Altstadt - durch Stadttore einfach zu kontrollieren - gleicht zeitweise einer Festung aus Checkpoints und mobilen Kontrollteams, die einen alle Weile nach der Berechtigung des Draußenseins befragen. 


So oder so ähnlich müssen sich Untergrundkämpfer im Krieg gefühlt haben, denke ich, und frage den 96-jährigen Bekannten, der im Holocaust in der französischen Resistance kämpfte. Am ersten Checkpoint mit gefälschter Identität hat man noch Angst, sagt er. Sie sinke mit jeder weiteren Kontrolle - bis man irgendwann vergisst, dass die Identität gefälscht sei.
Zur Resistance-Kämpferin tauge ich ganz offenbar nicht. Die ständige Alarmbereitschaft kostet, und bei mir steigt der Stresspegel bei jeder Kontrolle, ganz ohne dass meine Identität gefälscht wäre. Die Ausreden, die ich mir für meine täglichen kleinen Fluchten zum Laufen bereitgelegt habe, sitzen mittlerweile wie ein Mantra auch auf Hebräisch; manchmal träume ich von ihnen.
Heute jedenfalls brauchte ich sie, war ich doch beim verbotenen Joggen in eine Straßensperre geraten. Nach einer halben Stunde Befragung wurde ich mit einer Verwarnung ziehen gelassen. Nicht etwa, weil meine Ausreden (oder gar mein Hebräisch) so gut waren. Der alphanumerische deutsche Pass war nicht mit dem numerischen israelischen System vereinbar, der betreffenden Einsatzkraft der Weg zur nächsten Wache zu weit.


Der Dämpfer brachte bei mir erste Anzeichen des Lagerkollers mit sich, verschärft durch die immer schwieriger zu ertragende Omnipräsenz der Nachbarn. In der Altstadt leben wir wie in einem Hühnerstall aufeinander; an guten Tagen nicht immer konfliktfrei, in Zeiten wie diesen unerträglich.
Nach den Feiertagen werden sie die Einschränkungen lockern, äußern viele Freunde immer wieder ihre Hoffnung. Doch Feiertage in einer multireligiösen Stadt wie Jerusalem scheinen in Corona-Zeiten schlicht endlos. Auf den Auftakt des jüdischen Pessachfests folgt Ostern nach Gregorianischem Kalender; folgt der Abschluss von Pessach, folgt Mimouna, das marokkanische Nachpessachfest; folgt Ostern nach Julianischem Kalender, folgt Ramadan. Folgt Pfingsten, folgt Schawuot. Doch soweit mag ich gar nicht denken.


Jeder Feiertag als potentieller Anlass für eine erneute komplette Ausgangssperre, die mit zunehmender Härte umgesetzt wird, während Ministerpräsident, Staatspräsident und Gesundheitsminister die selbst gesetzten Regeln fröhlich und öffentlich dokumentiert brechen. Besagter Gesundheitsminister stellte übrigens das Kommen des Messias in Aussicht, irrte allerdings beim Datum (bis Pessach, oder vergaß er nur das Jahr?).
Unterdessen ist, von der Öffentlichkeit beinahe unkommentiert, das Mandat des Netanjahu-Herausforderers Benny Gantz zur Regierungsbildung abgelaufen; hat Staatspräsident Reuven Rivlin das Parlament an seiner statt mit der Regierungsbildung beauftragt; ist das Land wieder einen Schritt näher an den vierten vorgezogenen Neuwahlen binnen weniger als 18 Monaten. Aber da sich gegenwärtig schon Tage wie eine Ewigkeit anfühlen, ist bis dahin ja (gefühlt) noch etwas Zeit.

Dienstag, 14. April 2020

Mittendrin und einsam-gemeinsam

Klar ist es ein Privileg, dort sein zu dürfen, wo zu den hohen Feiertagen wohl die meisten Gläubigen gern wären: am Originalschauplatz. Damit ist man jedoch üblicherweise auch immer mitten drin: im Gedränge.
 

Einsam-gemeinsam. So liessen sich stattdessen die vergangenen Tage beschreiben, in die neben dem jüdischen Pessachfest auch die Heilige Woche und das Osterfest nach dem gregorianischen Kalender fielen. Gefeiert wurde, aber eben nicht wie üblich im Gedränge der Menge, sondern in der Kernfamilie, im extremsten Fall allein. Wo die Palmprozession abgesagt wurde, kamen gesegnete Palmzweige in Körben zu den Häusern der Menschen. Wo sie aufgrund von Ausgangssperren nicht zum traditionellen Kreuzweg auf die Via Dolorosa kommen konnten, zog der Pfarrer mit seinem Kreuz durch die engen Gassen des christlichen Viertels, bauten engagierte Gläubige Kreuze in ihren Nachbarschaften auf. Wo das gemeinsame Gebet aus Virenschutz verboten war, versammelten sich Juden zu Pessach in Gebetsschals auf den Dächern ihrer Häuser, um jeder für sich und trotzdem zusammen Gott zu preisen. Wo optische (Über)Reize zur Leere werden, übernimmt das Akustische: Osterhymnen und Torahlesungen sozusagen frei Haus, ein hörbares Add-On zum üblichen Klangteppich aus Glocken und Muezzinen. Dann und wann (nach den Regeln des Status Quo, an denen auch in Pandemiezeiten nicht gerüttelt wird) öffneten sich die Tore der Grabeskirche, um den Erzbischof mit weniger als einer Handvoll Begleitern in die Dunkelheit zu verschlucken. Gesänge und Orgelklänge hinter verschlossenen Türen schufen ein ebenso surreales wie vertrautes Bild.
 

Und ich? Bin immer noch privilegiert. Weil ich zum Arbeiten raus darf, und meine Arbeit auch darin besteht, diese ungesehenen Szenen sichtbar zu machen. Wenn ich aber gedacht hatte, statt Pilgerflut würden Ruhe und Entschleunigung einkehren und ich für einmal nichts machen, noch nicht einmal feiern – dann lag ich falsch. Die Stadt selbst, scheint es, wird zum Gottesdienst.