Dienstag, 1. September 2015

Wut im Bauch

Sonntagmittag in Beit Jalla. Ein für seine Direktheit bekannter streitbarer alt-Patriarch Michel Sabah steht auf einem kleinen Platz in der Nachbarschaft "Beir Ona", dutzende Mikrophone und Kameras auf ihn gerichtet. Jemand hinter ihm streckt eine Marienikone gen Himmel, denselben, in dem bereits etliche Palästinenserfahnen wehen. Viele, die sich um Sabah scharen, hatten sich vorher zur Sonntagsmesse im "Deir el latin" versammelt. Vor den Kameras wiederholt der Palästinenser Worte seiner Predigt, spricht von Frieden, Gerechtigkeit, kritisiert die Entwurzelung uralter Olivenbäume, macht den Anspruch der Beit-Jalla-Bewohner auf ihre Erde geltend. Der Tag wird kommen, sagt Sabah, an dem unser Land wieder uns gehört, und das wird der Tag sein, an dem Israelis und Palästinenser in Frieden zusammenleben. Auf den Dächern der umliegenden Häuser stehen israelische Sicherheitskräfte.
Zu einem "Marsch des Friedens" ruft Michel Sabah auf, zu einer "geistigen Intifada, ohne Kugeln und ohne Steine". Die kleine Menge setzt sich in Bewegung, von dem kleinen Platz aus in Richtung der Absperrung, an der israelische Sicherheitskräfte den Zugang zur Baustelle des umstrittenen Mauerteilstücks verhindern, das einst die Bewohner von Beit Jala von weiten Teilen ihrer Ländereihen abtrennen soll. Ordensschwestern, Priester, Gläubige. Christen und Muslime, Männer, Frauen, Alte und Dorfjugend folgen einem Jeep, aus dessen Lautsprecher ein Kirchenlied scheppert. Viele singen mit. Die Einheit wird beschworen, ein Vater Unser gebetet. Sabah steigt in sein Auto. Ein Teil der Menge zieht weiter, dichter an die Israelis, Sprechchöre werden lauter. Die Stimmung bleibt friedlich, Provokationen oder Aggressionen bleiben aus.
Dann ein Knall. Noch einer. Viele weitere. Tränengaskartuschen landen in der Menge, die Luft wird unangenehm. Was dann kommt, geht schnell. Bloss keine von den Kartuschen abbekommen. Raus aus der beissenden Luft. Ein Blick zurück, sicherstellen, dass die Freundinnen in Ordnung sind. Rennen. Die Kartuschen folgen der flüchtenden Menge, die Reichweite und Zielgenauigkeit sind erschreckend. Augen, Hals, das ganze Gesicht brennen. Erfahrenere Mitflüchtende verteilen Ratschläge, wie mit den unangenehmen Auswirkungen des Reizgases umzugehen ist.
Durchgeschwitzt und sprachlos kommen wir zurück ans Auto. Ein Anruf bei den Kollegen, ob alles in Ordnung ist. Der Schmerz und der Schock lassen langsam nach. Puls und Atem beruhigen sich. Zurück bleibt die Wut.

1 Kommentar:

  1. Liebe Andrea, das ist ein schrecklicher Druck dauernd - stelle ich mir vor. Ohne das vermutlich zu können. Uns Schweizer hier bewegen die Flüchtlinge im Fleischlaster in Österreich, die rechte Hetze und die Hilflosigkeit der Leute, die "etwas tun wollen" aber nicht recht wissen wie und was. Herzliche Grüsse & vielleicht kannst du die Wut durchs bloggen etwas abbauen. Gruss Beatrice

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