Samstag, 31. Dezember 2011

Welten-Reise

 Ezra sammelt uns mit seinem Jeep am Rande eines Beduinenlagers unterhalb einer jüdischen Siedlung ein. Ezra ist Jude und Israeli, stammt aus dem Irak und arbeitet für eine israelische Organisation, die den Beduinen gegen drohende Vertreibung oder Hauszerstörungen zu helfen versucht. Ezra spricht arabisch als Muttersprache und bewegt sich in den Beduinendörfern, als wäre er Teil der Stammes-Familien.

Ein Smalltalk am Wegrand, eine herzliche Umarmung, Luftballons für die zahlreichen Kinder. Und überall wo wir hinkommen das unvermeidliche Tee-Ritual.Die Beduinen, erklärt uns unser Guide, sind in jeder Hinsicht diskriminiert. Den jüdischen Siedlern, die sich auf dem ehemaligen Stammesland niedergelassen haben, sind sie ein Dorn im Auge, und auch in der palästinensischen Gesellschaft sind sie Bürger zweiter Klasse. Es mangelt an Land für die wachsende Bevölkerung, und es mangelt an Respekt für den traditionellen Lebensstil der Beduinen. Diese Menschen, sagt Ezra, haben als freie Menschen ohne Grenzen gelebt. Sie haben die Grenzen nicht gemacht, müssen aber nun mit ihnen leben.

 Wir kommen mit Ezra, und so sind auch wir fast Teil der Familie. Die Frauen, sonst bei fremden Besuch unsichtbar in ihren Zelten oder Hütten, begrüssen mich mit herzlichen Umarmungen und laden mich zum Tee in den Küchenbereich. 

Nur schwer können wir uns loseisen, aber Ezra will weiter, uns ein weiteres Beduinendorf zeigen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu einer (gutabgeriegelten) jüdischen Siedlung sind der Kontrast im Lebensstil und die Spannungen im alltäglichen Neben- und Gegeneinander greifbar. Daneben kleine Funken Hoffnung: Ein paar Juden und Araber bauen zusammen an einem Fussballfeld für die Beduinenkinder, während die Beduinenjungs ihren jüdischen Kollegen zeigen, wie man ohne Sattel auf einen Esel springt. Ein einsamer Siedler wohnt der ungewohnten Szenerie schweigend-protestierend bei. Der freundlich zur Begrüssung entgegengestreckten Hand seiner Landsleute entzieht er sich wortlos.

Ein paar Kilometer weiter werden wir Zeuge eines absurden Rituals einer ganz anderen Welt. Einige wenige Palästinenser, vis-à-vis einiger weniger israelischer Grenzsoldaten, wobei sich beide Seiten gut zu kennen scheinen (und die Stimmung zwischen beiden nicht im Mindesten aufgeregt ist). Dazwischen eine handvoll anarchistischer Demonstranten diverser Nationalitäten, die lautstark gegen das Unrecht in der Region protestieren. Man bewegt sich in einem gewissen Sicherheitsabstand voneinander, hier und dort kommt es zu leichtem Körperkontakt zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, es folgen ein paar obligatorische Photo-Posen (Palästinenserfahne, Keffiye, Soldat), und die "Demonstration" ist beendet. Fast erwartete man, dass sich die beiden Parteien per Handschlag voneinander verabschieden, bis zum nächsten Mal.
Ein Abstecher in die jüdische Sieldung Tekoa, und es folgt die letzte Station des Tages: Die Olivenhaine zwischen Beit Jala und Cremisan. Eine handvoll Christen und ein paar Ausländer versammeln sich hier seit drei Monaten zur wöchentlichen Freiluftmesse gegen den geplanten Mauerbau, der das mehrheitlich christliche Dorf von weiten Teilen seines Ackerlandes abtrennen würde, für das Nachbardorf Walajah bereits bittere Realität. Keine zwölf Stunden waren wir so unterwegs, und die zurückgelegten Distanzen in dem ohnehin kleinen Land sind eigentlich lächerlich. Mental aber war dieser Tag eine Welten-Reise.

Freitag, 30. Dezember 2011

Montag, 26. Dezember 2011

open and safe

"Israel is a democratic, Western, liberal state.  The public sphere is open and safe for everyone – men and women alike.  There is no place for harassment or discrimination."
Benjamin Netanyahu zum Auftakt der sonntäglichen Kabinettssitzung (25. Dezember)

Samstag, 24. Dezember 2011

Ausnahmezustand

Für die Taxifahrer am Bethlehem-Checkpoint ist es kein guter Tag. Schon Stunden vor dem geplanten Einzug des Lateinischen Patriarchen und seines Konvois sind die Zufahrtsstrassen zum Checkpoint gesperrt, Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge säumen den Weg. Auch, wer seinen Weg zu Fuss in Richtung Krippenplatz fortsetzt, kann die seltsame Atmosphäre spüren. Überall Bewaffnete, rund um den Checkpoint israelische Soldaten, weiter in Richtung Stadt dann palästinensische Sicherheitskräfte. Viele Strassen sind menschenleer, was sich schlagartig ändert, je näher man dem Ort des Geschehens kommt. Weihnachtsdeko in den schrillsten Farben blinkt um die Wette, am Fuss des Krippenplatzes sammeln sich lautstark die Scouts mit ihren Trommeln und Dudelsäcken. Die Wege des Konvois sind schon jetzt von Menschenmengen gesäumt. Es ist die übliche Mischung aus Weihnachtsrummel und Volksfest, nur im Medienzentrum herrscht noch einigermassen Ruhe.
 "Can I see you presscard?" Die junge Dame am Empfang ist schon anfangs nicht unbedingt freundlich, aber als ich meine israelische Pressekarte hervorziehe, versteinert sich ihre Miene. Die ist hier nicht gültig, "this is Palestine", schnauzt sich mich an. Ohne palästinensische Pressekarte kein Zugang zum Medienzentrum, keine Diskussion. Die letzten beiden Jahre sei das nie ein Problem gewesen, versuche ich zu argumentieren, ausserdem könne ich zwanzig Minuten meine Akkreditierung der Franziskaner abholen und ihr vorzeigen. "This is only the religious thing", antwortet sie scharf, das interessiere sich nicht (immerhin sind wir hier, um über Weihnachten zu berichten...). "This is Palestine, and if you come to a state, you have to apply for the presscard! We changed our policy this year." Ok, wusste ich nicht, versuche ich es auf die sanfte Tour, aber auch das "kann nicht sein, wir haben schliesslich zwei Mails verschickt." Die bei mir nicht angekommen sind, meine Entschuldigung. Wie auch, ich bin ja nicht akkreditiert, ihre Reaktion. Wir drehen uns im Kreis. Sie greift zum Telefon. Nach ein paar Minuten kommt sie wieder, eine Spur freundlicher und mit einem Formular für die Akkreditierung für die palästinensische Pressekarte in der Hand. Vor ihren Augen darf ich das Formular ausfüllen und abliefern und sie macht "für dieses eine Mal" eine Ausnahme für mich. Ich darf bleiben und arbeiten. In der Zwischenzeit ist meine Franziskanerakkreditierung eingetroffen, die ich ihr der Form halber dann doch vorzeige. "Warum hast Du das nicht gleich gesagt, dass Du von der Franziskanercrew bist" (ich hüte mich tunlichst, diese kleine Ungenauigkeit zu berichtigen) - "das ist die einzige Gruppe, für die eine Ausnahmeregelung gilt!" Nun denn. Im nächsten Jahr dann wohl mit palästinensischer Pressekarte, zur Sicherheit...

Freitag, 23. Dezember 2011

Chanukka II

"Kann mir eigentlich mal jemand erklären, was wir an Chanukka nun eigentlich wirklich feiern? Ich habe diese Woche so viele Erklärungen gehört und irgendwie nicht mal die Hälfte verstanden!" Die beiden Jüdinnen am Tisch setzen an, das Ölwunder im Tempel zu erklären, aber der (ebenfalls jüdische) Fragesteller gibt sich nicht zufrieden. "Ich dachte, das sei alles eine nette, aber späte Legende!" Korrekt, wirft die Protestantin ein. Steht alles im Buch der Makkabäer, und sie beginnt mit der Geschichte der Unabhängigkeitskämpfe der Juden gegen die hellenistischen Seleukiden. Fragende Gesichter in der jüdischen Runde. Makkabäerbuch? Das Buch hat nicht Eingang gefunden in den Tanach, erklärt die Protestantin. Dafür ist es Teil der "katholischen" Bibel, ergänzt die Katholikin. Es folgen lange Ausführungen zu den Makkabäerbücher, Flavius Josephus und archäologischen Ausgrabungen, zur jüdischen Geschichte überhaupt. Die beiden Christinnen schauen sich an: "Wird Zeit, dass wir Euch mal eine Einheitsübersetzung der Bibel schenken - als Mitbringsel zum nächsten Schabbt-Essen vielleicht!"

Chanukka

In Fett Gebackenes steht dieser Tage auf vielen Speiseplänen, in Erinnerung an das Ölwunder von Chanukka. Sufganiot heisst die jüdische Variante der "Berliner", und ob der teils oppulenten Füllung stellt sich dem Geniesser die Frage, was nun schwieriger sein mag: Den Namen richtig auszusprechen, oder das Gebäck ohne Schaden an Mensch und Umwelt zu verzehren...

Montag, 19. Dezember 2011

Good Morning Israel

"Good morning, Israel. You've woken up? Years of rioting against Palestinians, uprooting of trees, vandalism, arson, destruction, dispossession, theft, rocks and axes didn't cause a ripple here. But one rock to the head of a deputy brigade commander, Lt. Col. Tzur Harpaz, made all the difference.
An all-out riot. Jewish terrorism. There are militias in the West Bank, settler-terrorists in a no-man's-land. And all this due to a rock that drew a few drops of sacred Jewish blood. Here they are again: arrogance and nationalist ideology."
Gideon Levy, Haaretz (18. Dezember)

Montag, 12. Dezember 2011

Die Frage


Das arabische Scrabble im jüdischen Spielwarengeschäft inmitten der Westjerusalemer Einkaufsstrasse fesselt unsere Aufmerksamkeit. Wer seine Kunden sind, will mein Begleiter wissen, und schon entspannt sich ein Gespräch in dem für diese Stadt so typischen Sprachenwirrwarr. Mein Begleiter mit dem Inhaberehepaar auf Hebräisch, die Inhaber mit mir auf Deutsch, ich mit meinem Begleiter Französisch und als "common language" schliesslich noch ein wenig Englisch. "Wie lange bist Du schon hier und was machst Du?" - Harmloser Smalltalk. Bis zu meiner Antwort: "Journalistin." Da war sie, die Frage, die ich doch so sehr zu vermeiden suche: "Und - was denkst Du von diesem Land?" Ich schlage mich tapfer im Kreuzverhör mit dem Ladenbesitzer, während dessen Frau mit meinem Begleiter über die potentiellen Kunden für ein arabisches Scrabble diskutieren. Auf einmal habe ich alle Aufmerksamkeit. Die Frau holt weit aus. Während langer Zeit, erklärt sie, habe das Logo ihres Familiengeschäfts eine Frau mit zwei Fahnen gezeigt, eine für die Juden, eine für die Araber (ich nehme an, dies ist als Zeichen der Toleranz gegenüber dem Nachbarn zu werten?). Und was sie mir jetzt sage, sei schwer: Der einfache Araber wolle in Frieden leben, das sei schon klar, aber das sei eine Frage der DNA. Araber könnten töten. Jeder Mensch kann töten, wende ich ein, aber die Frau verweist auf Syrien und Irak und ist von ihrer Gewissheit nicht abzubringen: Ein Araber tötet einfach schneller, erblich bedingt. Vermutlich war mir in diesem Moment deutlich im Gesicht abzulesen, was ich (manchmal) von diesem Land denke...

existential war

"I have not lost hope. I wake up in the morning, and God says to me, 'David, put on your tefillin and go to work. Don’t give up.' (...) He is pressuring me not to give up, to believe that I can contribute, not to stop believing that things can change, to get out of the war. It’s an existential war for me. What is happening today with religion is more dangerous than what’s happening with the Arabs. The Arabs want to kill my body – the Jews are killing my soul."
Rabbi David Hartman in einem Interview mit Ynet-News (12. Dezember)

Samstag, 10. Dezember 2011

Immer wieder Jesus

"Jesus fucking Christ". Das Erschrecken über ihren spontanen Ausspruch steht der englischen Jüdin ins Gesicht geschrieben. Breites Grinsen in der jüdischen Runde, irritierte Blicke bei den vereinzelten Christen. Die Entschuldigung folgt unmittelbar.
"I want to meet my Jesus...", heisst es in der zweiten Strophe eines Gospels aus dem aktuellen Chorprogramm. Zumindest im Original. Unsere Fassung wurde in "I want to meet my maker" umgeändert, nach einer langen Diskussion zwischen ein paar Ensemble-Mitgliedern, ob man auch als Jude am Originaltext festhalten könne. Der Kompromiss-Vorschlag - analog zur ersten Strophe (I want to meet my mother) Jesus durch "father" zu ersetzen, fand keinen Anklang: Tönt zu sehr nach Maria und Joseph und ist damit keinen Deut "besser" als Jesus... Zur Aufführung kommt die Variation übrigens in einer Kirche.
Beim Weihnachtslieder-Konzert (!) am 24. Dezember (!!) wird es diese Diskussionen nicht geben - der Bachsche "Weihnachtsklassiker" "Oh Haupt voll Blut und Wunden" wurde in weiser Vorraussicht mit "leichten" Textänderungen ins Hebräische übertragen: Aus dem dornengekrönten Haupte werden da, ganz biblisch, der Wolf, der beim Lamme wohnt und der Knabe, der sie hütet. Das interreligiöse Miteinander ist und bleibt eine heikle Gradwanderung.

Freitag, 9. Dezember 2011

Montag, 5. Dezember 2011

Heilig

"Why do many of the ultra-orthodox not understand that the attempt to suppress women – suppress their voice, the way they look, their presence in public life – is liable to cause most of the Israeli public (including the religious and many ultra-orthodox) to go crazy?  Because we did not tell them – in a loud and clear voice – that it is sacred to us.  It is not just another small and aggravating abuse to which we have already become accustomed to.  The State of Israel will not exist, cannot exist, must not exist – to the exclusion of women from public life.  The ultra-orthodox must know that they are playing with fire.  Women's equality is sacred to Israel, and with what is sacred to Israel, no one can play with."
Kommentar der Tageszeitung Yediot Ahranot (5. Dezember)

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Oh God

"Ten months after the great Arab uprising began, the picture is clear - Allah won. The Google boys are gone. The liberal intellectuals are gone. Those who promised us liberty, equality and fraternity are gone. We didn't get the American Revolution of 1776 or the French Revolution of 1789. We didn't even get Eastern Europe's Velvet Revolution of 1989. The Arab revolution of 2011 is a religious revolution. The power replacing the secular dictatorships of the corrupt Arab officers is Islam. No Martin Luther King is on the horizon, no Mahatma Gandhi and no Vaclav Havel (...)
But Allah is not alone. The mighty God of Israel is also coming back. He is back in the edict that a firing squad is better than women singing. He is back in the ban on displaying women's pictures in public; in the segregation between male and female in every public place. Jewish fanatics are launching a frontal attack on the minority, the individual and human rights. They are beleaguering the Supreme Court, the free media and open society (...) While Arab modernity is collapsing, Israeli modernity is cracking. God is back. God is spewing sparks. Oh God."
Ari Shavit in einem Haaretz-Kommentar (1. Dezember)