Wo
anfangen? Vielleicht
mit der Überraschung, die zur Überraschung wurde. Als ich Ende Februar den
Flieger bestieg, um meinen Vater zu seinem Geburtstag zu überraschen, machte
ich mir zwar Gedanken, ob der Blitzbesuch für meine Eltern (Risikogruppe!) bedenklich sein könnte. Dass das Deutschlandwochenende mich
nach Rückkehr in zweiwöchige Quarantäne befördern würde, damit hatte ich nicht
gerechnet.
Ich hielt
mich dran, meistens, nur nachts wurden die Laufschuhe ausgeführt, tagsüber
isoliert vom heimischen Wohnzimmer (und bei Sonne vor der Wohnungstür auf der
Terrasse) gearbeitet. Lebensmittel wurden von Freunden vor die Tür geliefert eigentlich
ganz praktisch (die Bestellung eine Schachtel Tampons wurde allerdings
ignoriert). Und vermutlich habe ich noch nie so viele Blumen geschickt
bekommen, zweitweise musste ich auf dem Wohnzimmertisch Platz für den Laptop
suchen. Als sich Hinweise auf größere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
mehrten, musste die Quarantäne dann aber doch einmal wirklich gebrochen werden,
zum Katzenfuttereinkauf zusammen mit der Kollegin der DW (und der Instinkt hat
nicht getrügt: Wir waren tatsächlich die letzten, die noch in den Laden
gelassen wurden…). Seit Sonntag gilt, dass nur noch "systemrelevante"
Dienste aufrechterhalten werden dürfen.
Dann
endlich, Montag. Quarantänefrei. Raus aus dem Haus. Fotografieren in einer
Stadt, die ich noch nie so menschenleer gesehen habe. Erstaunen darüber, dass
in der Altstadt weiterhin einzelne Cafés und nicht ganz so einzelne
Souvenirläden geöffnet haben und dass es immer noch Menschen gibt, die etwa den
Salbstein in der Grabeskirche oder die Klagemauer küssen und streicheln. Dienstag
noch eine zweite Runde über Klagemauer, Grabeskirche und Altstadt, dann am
Abend die Nachricht, dass ab sofort das Verlassen der Wohnungen nur noch
in dringenden Fällen gestattet ist. Gottesdienstliches Leben läuft (in allen
drei Religionen) auf Sparflamme – interessanterweise ist die Obergrenze zehn,
also die Zahl, die bestimmte jüdische Gebete als Quorum erfordern. Sport, so
ergab der Check der neuen Bestimmungen, ist vorerst noch so ein
"dringender Fall", in Kleinstgruppen von maximal fünf Personen und
mit zwei Metern Abstand. Ungeklärt bleibt die Frage, ob Frauen – anders als bei
den jüdischen Gebetsquoren – dabei zählen oder nicht :-)
Inzwischen hat sich eine Art Home-Office-Alltag eingependelt, der allabendlich mit der "Fernsehansprache" von Benjamin Netanjahu zu den neuesten Maßnahmen endet. Es ist schwer, sich des Gefühls zu erwehren, dass bestimmte Personen hier politisches Kapital aus der Krise schlagen. Fast drei Wochen nach den dritten Neuwahlen innerhalb eines Jahres gibt es immer noch keine neue Regierung, werden das Parlament und die Justiz quasi lahmgelegt und (mit erschreckender Akzeptanz der Zivilgesellschaft) Schritte zu einer unkontrollierten Überwachung von Coronavirusbetroffenen eingeleitet. Dass trotz weitreichender Einschränkungen dagegen Menschen auf die Straße gehen (bzw. in diesem Fall wohl eher: fahren), ist ein kleiner Lichtblick.
Die Botschaft sammelt inzwischen Adressen von Deutschen, die im Fall einer vollständigen Grenzschließung ausgeflogen werden wollen. Freiwillige in den deutschen Einrichtungen wie der Schmidtschule und dem Paulushaus wurden am Donnerstag ausgeflogen, darunter leider auch meine Katzenhüterin. Ausländer kommen nicht mehr ins Land (mit Ausnahme von Angeheirateten, Diplomaten und anderen, deren Lebensmittelpunkt nachweislich in Israel ist). Israelis dürfen nicht mehr über die Landgrenzen ausreisen, der Flugverkehr ist sehr stark reduziert. Für die palästinensischen Gebiete gilt der Ausnahmezustand, Bethlehem und Region sind völlig abgeriegelt, obwohl zuletzt mitgeteilt wurde, dass Journalisten Bewegungsfreiheit auch dort gewährt werden solle. Die Rückkehr nach Israel würde allerdings schwierig, von erneuter Quarantänepflicht mal abgesehen.
Ansonsten
(und ich hoffe, es klingt nicht zynisch): Die gesamte Woche im
"Freigang" begleitete mich das Gefühl, dass die gegenwärtige
Situation Jerusalem gut tut. Die Stadt atmet förmlich auf, von den Menschen-
und Automassen befreit. Der Himmel ist so klar wie sonst nie, die Luft spürbar
besser, die Stille ein Genuss. Freunde rufen häufiger mal an. Die wenigen
Menschen, die sich draußen und auf Distanz begegnen, gehen sanft und freundlich
miteinander um, sonst nicht gerade ein Charakteristikum der ellbogigen
Gesellschaft hier. Grob gesagt, kann man die Menschen hier in Bezug auf
Coronaängste in vier Schubladen stecken: Panik und Ignoranz (beides eher
Minderheiten), und dann die vermutlich etwa gleichstark vertretenen Haltungen
"Sorge, aber ohne Panik" und "Ich halt mich für die anderen
dran, auch wenn's mich nicht kümmert".
Prognosen für die nähere und mittelfristige Zukunft wage ich keine. Diverse private Pläne (Urlaub, Wettbewerbe, Besuche) fielen dem Virus schon zum Opfer, Wochenendausgleiche schiebe ich vor mir her. Angesichts der Nachrichtenlage und Dominanz des Themas fällt es mir schwer, davon abzuschalten und den Kopf frei zu kriegen für andere Themen. Wirklich beunruhigt bin ich allerdings von den "Testläufen", die die israelischen Sicherheitskräfte hier grade an der Altstadt und arabischen Wohnvierteln starten. Zweitweise war gestern die Altstadt (= mein Wohnort) abgeriegelt – und ich befürchte, dass sich das wiederholen und ausweiten könnte.
Dank Covid-19 habe ich inzwischen Internet zuhause und auch Skype läuft auf dem Laptop. Der Kontakt mit Euch und Ihnen lief und läuft einwandfrei und die fürsorglichen Nachfragen, ob in Jerusalem alles in Ordnung sei, tun gut und können alles in allem mit JA beantwortet werden! Und die Vierbeiner sind höchst zufrieden mit meiner Dauerpräsenz im heimischen Wohnzimmer (dann ist nämlich der Heizstrahler auch auf Dauerbetrieb).