Samstag, 21. März 2020

Der Himmel über Jerusalem


Wo anfangen? Vielleicht mit der Überraschung, die zur Überraschung wurde. Als ich Ende Februar den Flieger bestieg, um meinen Vater zu seinem Geburtstag zu überraschen, machte ich mir zwar Gedanken, ob der Blitzbesuch für meine Eltern (Risikogruppe!) bedenklich sein könnte. Dass das Deutschlandwochenende mich nach Rückkehr in zweiwöchige Quarantäne befördern würde, damit hatte ich nicht gerechnet.


Ich hielt mich dran, meistens, nur nachts wurden die Laufschuhe ausgeführt, tagsüber isoliert vom heimischen Wohnzimmer (und bei Sonne vor der Wohnungstür auf der Terrasse) gearbeitet. Lebensmittel wurden von Freunden vor die Tür geliefert eigentlich ganz praktisch (die Bestellung eine Schachtel Tampons wurde allerdings ignoriert). Und vermutlich habe ich noch nie so viele Blumen geschickt bekommen, zweitweise musste ich auf dem Wohnzimmertisch Platz für den Laptop suchen. Als sich Hinweise auf größere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit mehrten, musste die Quarantäne dann aber doch einmal wirklich gebrochen werden, zum Katzenfuttereinkauf zusammen mit der Kollegin der DW (und der Instinkt hat nicht getrügt: Wir waren tatsächlich die letzten, die noch in den Laden gelassen wurden…). Seit Sonntag gilt, dass nur noch "systemrelevante" Dienste aufrechterhalten werden dürfen.

Dann endlich, Montag. Quarantänefrei. Raus aus dem Haus. Fotografieren in einer Stadt, die ich noch nie so menschenleer gesehen habe. Erstaunen darüber, dass in der Altstadt weiterhin einzelne Cafés und nicht ganz so einzelne Souvenirläden geöffnet haben und dass es immer noch Menschen gibt, die etwa den Salbstein in der Grabeskirche oder die Klagemauer küssen und streicheln. Dienstag noch eine zweite Runde über Klagemauer, Grabeskirche und Altstadt, dann am Abend die Nachricht, dass ab sofort das Verlassen der Wohnungen nur noch in dringenden Fällen gestattet ist. Gottesdienstliches Leben läuft (in allen drei Religionen) auf Sparflamme – interessanterweise ist die Obergrenze zehn, also die Zahl, die bestimmte jüdische Gebete als Quorum erfordern. Sport, so ergab der Check der neuen Bestimmungen, ist vorerst noch so ein "dringender Fall", in Kleinstgruppen von maximal fünf Personen und mit zwei Metern Abstand. Ungeklärt bleibt die Frage, ob Frauen – anders als bei den jüdischen Gebetsquoren – dabei zählen oder nicht :-)


Inzwischen hat sich eine Art Home-Office-Alltag eingependelt, der allabendlich mit der "Fernsehansprache" von Benjamin Netanjahu zu den neuesten Maßnahmen endet. Es ist schwer, sich des Gefühls zu erwehren, dass bestimmte Personen hier politisches Kapital aus der Krise schlagen. Fast drei Wochen nach den dritten Neuwahlen innerhalb eines Jahres gibt es immer noch keine neue Regierung, werden das Parlament und die Justiz quasi lahmgelegt und (mit erschreckender Akzeptanz der Zivilgesellschaft) Schritte zu einer unkontrollierten Überwachung von Coronavirusbetroffenen eingeleitet. Dass trotz weitreichender Einschränkungen dagegen Menschen auf die Straße gehen (bzw. in diesem Fall wohl eher: fahren), ist ein kleiner Lichtblick.


Die Botschaft sammelt inzwischen Adressen von Deutschen, die im Fall einer vollständigen Grenzschließung ausgeflogen werden wollen. Freiwillige in den deutschen Einrichtungen wie der Schmidtschule und dem Paulushaus wurden am Donnerstag ausgeflogen, darunter leider auch meine Katzenhüterin. Ausländer kommen nicht mehr ins Land (mit Ausnahme von Angeheirateten, Diplomaten und anderen, deren Lebensmittelpunkt nachweislich in Israel ist). Israelis dürfen nicht mehr über die Landgrenzen ausreisen, der Flugverkehr ist sehr stark reduziert. Für die palästinensischen Gebiete gilt der Ausnahmezustand, Bethlehem und Region sind völlig abgeriegelt, obwohl zuletzt mitgeteilt wurde, dass Journalisten Bewegungsfreiheit auch dort gewährt werden solle. Die Rückkehr nach Israel würde allerdings schwierig, von erneuter Quarantänepflicht mal abgesehen.
 
Ansonsten (und ich hoffe, es klingt nicht zynisch): Die gesamte Woche im "Freigang" begleitete mich das Gefühl, dass die gegenwärtige Situation Jerusalem gut tut. Die Stadt atmet förmlich auf, von den Menschen- und Automassen befreit. Der Himmel ist so klar wie sonst nie, die Luft spürbar besser, die Stille ein Genuss. Freunde rufen häufiger mal an. Die wenigen Menschen, die sich draußen und auf Distanz begegnen, gehen sanft und freundlich miteinander um, sonst nicht gerade ein Charakteristikum der ellbogigen Gesellschaft hier. Grob gesagt, kann man die Menschen hier in Bezug auf Coronaängste in vier Schubladen stecken: Panik und Ignoranz (beides eher Minderheiten), und dann die vermutlich etwa gleichstark vertretenen Haltungen "Sorge, aber ohne Panik" und "Ich halt mich für die anderen dran, auch wenn's mich nicht kümmert". 


Prognosen für die nähere und mittelfristige Zukunft wage ich keine. Diverse private Pläne (Urlaub, Wettbewerbe, Besuche) fielen dem Virus schon zum Opfer, Wochenendausgleiche schiebe ich vor mir her. Angesichts der Nachrichtenlage und Dominanz des Themas fällt es mir schwer, davon abzuschalten und den Kopf frei zu kriegen für andere Themen. Wirklich beunruhigt bin ich allerdings von den "Testläufen", die die israelischen Sicherheitskräfte hier grade an der Altstadt und arabischen Wohnvierteln starten. Zweitweise war gestern die Altstadt (= mein Wohnort) abgeriegelt – und ich befürchte, dass sich das wiederholen und ausweiten könnte. 


Dank Covid-19 habe ich inzwischen Internet zuhause und auch Skype läuft auf dem Laptop. Der Kontakt mit Euch und Ihnen lief und läuft einwandfrei und die fürsorglichen Nachfragen, ob in Jerusalem alles in Ordnung sei, tun gut und können alles in allem mit JA beantwortet werden! Und die Vierbeiner sind höchst zufrieden mit meiner Dauerpräsenz im heimischen Wohnzimmer (dann ist nämlich der Heizstrahler auch auf Dauerbetrieb).

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