Dienstag, 29. Juli 2025

Entgrenzung

Ofer Waldman wurde in Jerusalem geboren und lebt heute in Berlin. Musiker, Autor, Redner.

Heute hat er im Deutschlandfunk ein politisches Feuilleton hingelegt. Deutliche Worte über das, was im Krieg mit unserer Sprache und anschliessend mit unserer Realität geschieht.

(M)ein Transkript des Radiobeitrags:

 
Entgrenzung: Kaum ein anderes Wort beschreibt so präzise was in Gaza, in Israel seit dem 7. Oktober 2023 geschieht. Räumliche Entgrenzung, politische Entgrenzung, menschliche Entgrenzung.

Zuerst die räumliche:

Am 7. Oktober überwanden Terroristen der Hamas die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel, drangen in militärische Basen, vor allem aber in zivile Ortschaften ein. Dort begannen sie zu morden und zu misshandeln. Auch verschleppten sie über 200 Menschen, darunter Babys und Greise. Über 1.000 Menschen, die große Mehrheit davon Zivilisten, wurden an diesem Tag grausam ermordet. Daraufhin startete Israel eine Militäroffensive, die den Gasstreifen sprichwörtlich dem Erdboden gleich macht. Häuser, Schulen, Krankenhäuser, der Gazastreifen ist zur grauen Trümmerwüste verkommen. Die offiziell Todeszahl beläuft sich auf fast 60.000, überwiegend Zivilisten, Kinder, Frauen. Hinter dieser Zahl versteckt sind eine Hungersnot, eine humanitäre Krise sondergleichen, die Zerstörung jeglicher Grundlagen für eine menschliche Existenz.

Der 7. Oktober und der darauffolgende Krieg entgrenzten unsere Vorstellungskraft. Todeszahlen, die bis vor zwei Jahren die Welt in Atem gehalten hätten, gehen nun als gewöhnliche Tagesmeldungen unter. Begriffe wie Vertreibung, Konzentration, Hungersnot, Geiseln, sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe sind geläufig geworden. Unsere Sprache, unsere Vorstellungskraft gewöhnten sich an diese Worte und mit ihnen auch unsere Realität. Unsere entgrenzte Realität.

Und wo die Realität sich entgrenzt, entgrenzt sich auch die Politik. Über die in Trümmern liegende Grenze des Vorstellbaren drängen nun infernalische Ideen und Schreckensvisionen in unsere Welt. Fanatische israelische Politiker erkennen, dass eine entgrenzte Realität ihnen eine einmalige Chance bietet, ihre messianischen Wahnideen Wirklichkeit werden zu lassen: die Vertreibung von mehr als 2 Millionen Palästinensern aus dem Gazastreifen, womöglich auch aus Teilen des Westjordanlandes, die endgültige Abschaffung der liberalen Demokratie in Israel und die Errichtung eines formell demokratischen, de facto religiös-nationalistischen Staates.

Wer glaubt, diese Entgrenzung wird sich auf den Nahen Osten beschränken, übt sich in gefährlicher. Selbsttäuschung. Nicht nur in Washington, auch in Europas rechtsextremen nationalistischen Abgründen wird diese Entgrenzung unserer Weltordnung gefeiert. Weltweit hegen antidemokratische Kräfte Schreckensvisionen und Pläne, die nur darauf warten, vorstellbar zu werden.

Dieser völligen Entgrenzung gegenüber stehen, gebeutelt und versehrt, drei Grenzwächter: der freie Journalismus, die demokratische Zivilgesellschaft und das Völkerrecht. Die Journalistinnen und Journalisten, die uns erzählen, was hinter der Grenze unserer Vorstellungskraft lauert. Die Aktivisten und Aktivistinnen der demokratischen Zivilgesellschaft, in Israel, in Palästina, weltweit, die uns daran erinnern, dass wir die Wahrung dieses Schutzwalls nicht der Politik überlassen dürfen. Vor allem aber das Völkerrecht, das aus den menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhundert entstand.

Das Völkerrecht ist die Barriere zwischen Menschlichkeit und Barbarei. Mit ihm bestehen wir darauf, dass das Unvorstellbare unvorstellbar bleibt. Es ermahnt uns, eine humane Grenze immer wieder zu ziehen und zu wahren, in der Sprache, in der Politik, in unserer Welt, in Israel, in Gaza.

Zum Nachhören:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/wir-erleben-die-totale-entgrenzung-100.html

 


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