Ich weiss nicht so recht, was ich erwartet hatte, als ich
Ende Juni zu meinem ersten Irak-Besuch aufbrach. Nicht, dass es so ist, wie es laut
vielen Medienberichten zu sein scheint. Dafür bin ich lange genug in der Region
und im Job. Etwas unruhig war ich trotzdem, auch wenn die Reise "nur"
in den kurdischen Nordirak ging. Nicht erwartet hatte ich, dass die Frage des Einreisevisums
eine formlose Sache von ein paar Minuten ist. Jeder Grenzübergang nach Jordanien,
jede Einreise in den Libanon sind deutlich komplizierter. Auch die Miniversion
von Dubai – Erbil und sein schicker Bauboom – hatte ich definitiv nicht
erwartet, und die Irritation ist spürbar, als wir uns mitten in der Nacht durch
modern-orientalisch-grössenwahnsinnige Bauten der äusseren Stadtringe bis zum
Hotel fortbewegen. Ein Eindruck, der sich beim morgendlichen Blick von der
sechsten Hoteletage über die Stadt noch verstärkt. Für mehr Erbil als diesen
ersten Blick bei frühmorgendlichen 30 Grad reicht die Zeit nicht, es geht
gleich weiter nach Dohuk und von dort aus in abgelegene christliche Dörfer.
Begegnung
mit syrischen Flüchtlingen. Es ist schwer auszumachen, wer Flüchtling,
wer Gastgeber ist und wer zu wem gehört. Alle reden gleichzeitig,
durcheinander, Englisch mischt sich mit Arabisch und Kurdisch, das ganz normale
orientalische Chaos. Die Landschaft um uns ist wild und schön, schwer
vorstellbar, dass knappe 70 Kilometer südlich von uns seit einem Jahr die
Terrororganisation Daesh ("Islamischer Staat") ihr blutiges Regime
aufrecht erhält. Im Sonnenuntergang jedenfalls wirkt alles surrealistisch idyllisch.
Es ist schwer, das Leid gegeneinander abzumessen, und ich
schäme mich für den gelegentlich auftauchenden Gedanken. Keinem der vor dem
islamistischen Terror Geflohenen geht es gut, der Verlust von Hab, Gut, Heimat
und nicht selten von Nahestehenden wiegt schwer. Und doch scheinen wie in den
anderen Aufnahmeländern auch in Kurdistan die Christen eher zu den
Glücklicheren unter den Flüchtlingen und Vertriebenen zu gehören. Zweite
Station: Besuch bei Jesiden, die von Capni, einer Caritas-Partnerorganisation,
unterstützt werden. 28 Familien in einem zweistöckigen Betonrohbau, zwei
Toiletten, vier Kochherde und ein Räumungsbescheid des Besitzers für Ende des
Monats… Wie eigentlich überall in der Region liegen die Kontraste und
unterschiedlichen Welten oft nur wenige hundert Meter auseinander. Auf dem Weg
zurück ins Hotel: "Dream City", ein Vergnügungspark, in dem sich zu
später Stunde unzählige Paare und junge Familien tummeln, etliche Frauen ohne
Kopftuch. Nicht erwartet hätte ich die junge Einheimische im engen Minirock,
ebenso wenig die zahlreichen Alkoholgeschäfte entlang der Hauptstrasse. Dohuk,
sagen unsre einheimischen Begleiter, gilt als die Konservativste im kurdischen
Städtetrio mit Erbil, Suleymaniya.
Den nächsten Morgen verbringen wir mit Mitarbeitern der
örtlichen Caritas in Zakho im Norden. Ein weiterer Betonrohbau, weitere 93
Jesidenfamilien, rund 600 Menschen leben unter dem unfertigen Dach. Der Beton
ist noch feucht, die Temperaturen draussen schon um die 40 Grad und das einem
improvisierten Ess-Wohnzimmer ähnelnde Untergeschoss gleicht einem Dampfbad. Es
wuselt vor Kindern aller Altersgruppen, und die Menschen erzählen uns bereitwillig
ihre Geschichten. Geschichten, die denen der Flüchtlinge im Libanon oder in
Jordanien ähneln. Und doch sind sie anders. Vielleicht ist es ein Charakterzug
der Jesiden – jedenfalls kommt es mir vor, als ob der klagend-anklagende Ton, den auszuhalten vielleicht der schwierigste Teil der Begegnung
ist, in der jesidischen Variante der Katastrophe beinahe vollständig fehlt.
Das gilt auch für Salwah, die ihre Geschichte derart
emotionslos erzählt, dass sie dadurch nur noch unerträglicher wird. "Mein
Leben ist vorbei", sagt die 18-Jährige, der nach acht Monaten in Daesh-Gefangenschaft
die Flucht gelang. Hätte sie gekonnt, sie hätte sich umgebracht, wie viele der
anderen Mädchen, die ihr Schicksal teilen. Salwah hatte es auf der Flucht vor
den Daesh-Kämpfern nicht mehr rechtzeitig ins rettende Sindschar-Gebirge
geschafft. An einer Straßensperre wurden sie und ihre Mitreisenden aus dem Auto
gerissen, nach Alter und Geschlecht in Gruppen aufgeteilt. Die Männer und Alten
kamen nach Schingal, die jungen Frauen nach Mossul. Anfangs waren die Peiniger
freundlich, dann fing das an, was Salwah "schlechtes Benehmen" nennt.
"Die Turkmenen waren die schlimmsten." Auch im Grauen gibt es
Abstufungen. "Sie haben die schönen Frauen von den anderen getrennt, die
haben sie dann vergewaltigt."
Auf solch eine Geschichte gibt es nichts, was richtig
klingt, und der Rückweg vom "Bersive Camp" nach Dohuk verläuft
ungewöhnlich still und nachdenklich. Sie klingt auch am nächsten Tag noch nach
und kontrastiert mit der idyllischen Berglandschaft östlich von uns, als wir in
Richtung Suleymaniyah fahren. Die Zahl der Militärkontrollen nimmt zu, ebenso
die Autoschlangen vor den Tankstellen. Unser Fahrer ist nicht gerade ein
Orientierungstalent. Trotz oder vielleicht wegen der vier Kompasse an der Windschutzscheibe
braucht er oft mehrere Anläufe, um den richtigen, wenn auch nicht den
kürzesten, Weg zu finden. Nach mehr als sechs Stunden erreichen wir Bainjan,
ein kleines Dorf, in dem ein paar hundert syrische Flüchtlinge Zuflucht
gefunden haben. Hitze, Schlafmangel, die vielen Eindrücke und die sich
ähnelnden Geschichten bringen mich an die Grenzen der Konzentration.
Hinzukommen widerstreitende Gefühle und Gedanken. In den Frust über die
aussichtslose Lage für die Mehrheit der Menschen, denen wir begegnen mischen
sich Wut über die Untätigkeit Deutschlands und Europas, Verzweiflung angesichts
der Paradiesvorstellungen, die sich viele unbeirrbar von Europa machen, aber auch
Ärger über die Erwartungshaltung mancher Flüchtlinge. Ich bin froh, abends in
mein Bett zu fallen und kann doch nicht schlafen.
Die Schlangen vor den inzwischen geschlossenen Tankstellen
gehen am nächsten Morgen ins Unendliche; fliegende Händler verkaufen Benzin aus
Kanistern. Aus den Nachrichten haben wir erfahren, dass es erneute Kämpfe
zwischen Daesh und Regierungstruppen gab rund um Baiji, einer der wichtigsten
Ölraffinerien etwa 200 Kilometer südwestlich von uns. Wir setzen unsren Weg
fort zum letzten Projekt: Ein Community Center der irakischen Hilfsorganisation
"Reach". Irakische, syrische und kurdische Jugendliche diskutieren in
Kleingruppen über gemeinsame Werte, die Stimmung ist trotz Ramadanbeginns
entspannt und fröhlich. Nicht erwartet hätte ich, eine Frau wie Hero zu
treffen. Die Reach-Regionalverantwortliche ist Kurdin, als Muslimin
aufgewachsen, hat an einer Mennonitischen Uni studiert, ist mit Ende vierzig
noch unverheiratet, trägt ihr langes graues Haar offen und ist alles in allem
eine beeindruckende Erscheinung. "Ich faste nicht während des Ramadan. Die
religiösen Führer sagen, das Fasten soll dich den Schmerz und den Hunger der
Armen fühlen lassen. Ich denke, während der Jahre der Sanktionen gegen den Irak
hatte ich genügend Anteil daran!"
Für uns geht es nach einem letzten Familienbesuch – syrische
Flüchtlinge – zurück nach Erbil, gerade noch rechtzeitig, um in der Stunde vor
dem Fastenbrechen eine Runde durch die Altstadt mit ihrer Zitadelle zu drehen
und einmal mehr über die Widersprüche und Gegensätze zu grübeln.
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