Sonntag, 5. Juli 2015

Vier Tage Irak


Ich weiss nicht so recht, was ich erwartet hatte, als ich Ende Juni zu meinem ersten Irak-Besuch aufbrach. Nicht, dass es so ist, wie es laut vielen Medienberichten zu sein scheint. Dafür bin ich lange genug in der Region und im Job. Etwas unruhig war ich trotzdem, auch wenn die Reise "nur" in den kurdischen Nordirak ging. Nicht erwartet hatte ich, dass die Frage des Einreisevisums eine formlose Sache von ein paar Minuten ist. Jeder Grenzübergang nach Jordanien, jede Einreise in den Libanon sind deutlich komplizierter. Auch die Miniversion von Dubai – Erbil und sein schicker Bauboom – hatte ich definitiv nicht erwartet, und die Irritation ist spürbar, als wir uns mitten in der Nacht durch modern-orientalisch-grössenwahnsinnige Bauten der äusseren Stadtringe bis zum Hotel fortbewegen. Ein Eindruck, der sich beim morgendlichen Blick von der sechsten Hoteletage über die Stadt noch verstärkt. Für mehr Erbil als diesen ersten Blick bei frühmorgendlichen 30 Grad reicht die Zeit nicht, es geht gleich weiter nach Dohuk und von dort aus in abgelegene christliche Dörfer.


Begegnung mit syrischen Flüchtlingen. Es ist schwer auszumachen, wer Flüchtling, wer Gastgeber ist und wer zu wem gehört. Alle reden gleichzeitig, durcheinander, Englisch mischt sich mit Arabisch und Kurdisch, das ganz normale orientalische Chaos. Die Landschaft um uns ist wild und schön, schwer vorstellbar, dass knappe 70 Kilometer südlich von uns seit einem Jahr die Terrororganisation Daesh ("Islamischer Staat") ihr blutiges Regime aufrecht erhält. Im Sonnenuntergang jedenfalls wirkt alles surrealistisch idyllisch.

Es ist schwer, das Leid gegeneinander abzumessen, und ich schäme mich für den gelegentlich auftauchenden Gedanken. Keinem der vor dem islamistischen Terror Geflohenen geht es gut, der Verlust von Hab, Gut, Heimat und nicht selten von Nahestehenden wiegt schwer. Und doch scheinen wie in den anderen Aufnahmeländern auch in Kurdistan die Christen eher zu den Glücklicheren unter den Flüchtlingen und Vertriebenen zu gehören. Zweite Station: Besuch bei Jesiden, die von Capni, einer Caritas-Partnerorganisation, unterstützt werden. 28 Familien in einem zweistöckigen Betonrohbau, zwei Toiletten, vier Kochherde und ein Räumungsbescheid des Besitzers für Ende des Monats… Wie eigentlich überall in der Region liegen die Kontraste und unterschiedlichen Welten oft nur wenige hundert Meter auseinander. Auf dem Weg zurück ins Hotel: "Dream City", ein Vergnügungspark, in dem sich zu später Stunde unzählige Paare und junge Familien tummeln, etliche Frauen ohne Kopftuch. Nicht erwartet hätte ich die junge Einheimische im engen Minirock, ebenso wenig die zahlreichen Alkoholgeschäfte entlang der Hauptstrasse. Dohuk, sagen unsre einheimischen Begleiter, gilt als die Konservativste im kurdischen Städtetrio mit Erbil, Suleymaniya.
Den nächsten Morgen verbringen wir mit Mitarbeitern der örtlichen Caritas in Zakho im Norden. Ein weiterer Betonrohbau, weitere 93 Jesidenfamilien, rund 600 Menschen leben unter dem unfertigen Dach. Der Beton ist noch feucht, die Temperaturen draussen schon um die 40 Grad und das einem improvisierten Ess-Wohnzimmer ähnelnde Untergeschoss gleicht einem Dampfbad. Es wuselt vor Kindern aller Altersgruppen, und die Menschen erzählen uns bereitwillig ihre Geschichten. Geschichten, die denen der Flüchtlinge im Libanon oder in Jordanien ähneln. Und doch sind sie anders. Vielleicht ist es ein Charakterzug der Jesiden – jedenfalls kommt es mir vor, als ob der klagend-anklagende Ton, den auszuhalten vielleicht der schwierigste Teil der Begegnung ist, in der jesidischen Variante der Katastrophe beinahe vollständig fehlt.


Das gilt auch für Salwah, die ihre Geschichte derart emotionslos erzählt, dass sie dadurch nur noch unerträglicher wird. "Mein Leben ist vorbei", sagt die 18-Jährige, der nach acht Monaten in Daesh-Gefangenschaft die Flucht gelang. Hätte sie gekonnt, sie hätte sich umgebracht, wie viele der anderen Mädchen, die ihr Schicksal teilen. Salwah hatte es auf der Flucht vor den Daesh-Kämpfern nicht mehr rechtzeitig ins rettende Sindschar-Gebirge geschafft. An einer Straßensperre wurden sie und ihre Mitreisenden aus dem Auto gerissen, nach Alter und Geschlecht in Gruppen aufgeteilt. Die Männer und Alten kamen nach Schingal, die jungen Frauen nach Mossul. Anfangs waren die Peiniger freundlich, dann fing das an, was Salwah "schlechtes Benehmen" nennt. "Die Turkmenen waren die schlimmsten." Auch im Grauen gibt es Abstufungen. "Sie haben die schönen Frauen von den anderen getrennt, die haben sie dann vergewaltigt."


Auf solch eine Geschichte gibt es nichts, was richtig klingt, und der Rückweg vom "Bersive Camp" nach Dohuk verläuft ungewöhnlich still und nachdenklich. Sie klingt auch am nächsten Tag noch nach und kontrastiert mit der idyllischen Berglandschaft östlich von uns, als wir in Richtung Suleymaniyah fahren. Die Zahl der Militärkontrollen nimmt zu, ebenso die Autoschlangen vor den Tankstellen. Unser Fahrer ist nicht gerade ein Orientierungstalent. Trotz oder vielleicht wegen der vier Kompasse an der Windschutzscheibe braucht er oft mehrere Anläufe, um den richtigen, wenn auch nicht den kürzesten, Weg zu finden. Nach mehr als sechs Stunden erreichen wir Bainjan, ein kleines Dorf, in dem ein paar hundert syrische Flüchtlinge Zuflucht gefunden haben. Hitze, Schlafmangel, die vielen Eindrücke und die sich ähnelnden Geschichten bringen mich an die Grenzen der Konzentration. Hinzukommen widerstreitende Gefühle und Gedanken. In den Frust über die aussichtslose Lage für die Mehrheit der Menschen, denen wir begegnen mischen sich Wut über die Untätigkeit Deutschlands und Europas, Verzweiflung angesichts der Paradiesvorstellungen, die sich viele unbeirrbar von Europa machen, aber auch Ärger über die Erwartungshaltung mancher Flüchtlinge. Ich bin froh, abends in mein Bett zu fallen und kann doch nicht schlafen.

Die Schlangen vor den inzwischen geschlossenen Tankstellen gehen am nächsten Morgen ins Unendliche; fliegende Händler verkaufen Benzin aus Kanistern. Aus den Nachrichten haben wir erfahren, dass es erneute Kämpfe zwischen Daesh und Regierungstruppen gab rund um Baiji, einer der wichtigsten Ölraffinerien etwa 200 Kilometer südwestlich von uns. Wir setzen unsren Weg fort zum letzten Projekt: Ein Community Center der irakischen Hilfsorganisation "Reach". Irakische, syrische und kurdische Jugendliche diskutieren in Kleingruppen über gemeinsame Werte, die Stimmung ist trotz Ramadanbeginns entspannt und fröhlich. Nicht erwartet hätte ich, eine Frau wie Hero zu treffen. Die Reach-Regionalverantwortliche ist Kurdin, als Muslimin aufgewachsen, hat an einer Mennonitischen Uni studiert, ist mit Ende vierzig noch unverheiratet, trägt ihr langes graues Haar offen und ist alles in allem eine beeindruckende Erscheinung. "Ich faste nicht während des Ramadan. Die religiösen Führer sagen, das Fasten soll dich den Schmerz und den Hunger der Armen fühlen lassen. Ich denke, während der Jahre der Sanktionen gegen den Irak hatte ich genügend Anteil daran!"


Für uns geht es nach einem letzten Familienbesuch – syrische Flüchtlinge – zurück nach Erbil, gerade noch rechtzeitig, um in der Stunde vor dem Fastenbrechen eine Runde durch die Altstadt mit ihrer Zitadelle zu drehen und einmal mehr über die Widersprüche und Gegensätze zu grübeln.




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