Ja, es IST ansteckend. Als könnte man es bis ins Schlafzimmer riechen, werde ich um vier Uhr morgens wach - und draussen herrscht wildes Schneetreiben. Um fünf Uhr hält es mich nicht mehr drinnen, und mit der grösstmöglichen Zahl an Kleidungsschichten, Hut, Regenjacke, Schirm und Kamera bewaffnet ziehe ich los. Ich bin keineswegs die Einzige, die sich um diese Uhrzeit bereits in den Schnee "stürzt": Am Tzahal-Platz und entlang der Stadtmauer zum Jaffa-Tor toben bereits diverse Schneeballschlachten, die Stimmung ist ausgelassen-übermütig - selbst die Polizei winkt fröhlich den Passanten zu.
Erste Runde entlang der Mauer zum Zion, durch das jüdische Viertel an der Hurwa-Synagoge vorbei zur Klagemauer. Es schneit immernoch so kräftig, dass man selbst von der Aussichtsplattform aus Mühe hat, die goldene Kuppel des Felsendoms auch nur zu erahnen. Denen, die um diese Uhrzeit schon unterwegs sind, macht das Schneetreiben aber sichtlich allergrösste Freude... Auf der Männerseite hüpfen ein paar vereinzelte Beter mit ausgebreiteten Armen tanzend durch den Schnee, auf der Frauenseite posieren unterdessen fünf junge Amerikanerinnen in quitschbunten Gummistiefeln fürs Erinnerungsphoto mit Seltenheitswert. Ein
bisschen nass und verfroren sehen sie schon aus, richtig zu stören scheint es sie aber nicht (Immerhin: Um drei Uhr nachts sind sie von Kiryat Moshe etliche
Kilometer nordwestlich der Jerusalemer Altstadt "zum Schnee schauen" aufgebrochen,
zu Fuss, Taxis oder Busse waren "zu dieser Zeit und bei dem Wetter"
nicht zu haben.)
Durch die Altstadt wieder bergauf Richtung Jaffa-Tor, noch immer schneit es. An einer versteckten Passage quer durch eine Yeshiva zum Muristan ein kleiner Schock: Dem Security-Typ fehlt jegliche Phantasie sich vorzustellen, was in aller Welt um diese Zeit jemand auf dem Dach seiner Schützlinge zu suchen hat - und kommt mit gezückter Waffe auf mich zu. Zum Glück rutscht er nicht im Schnee aus und identifiziert meine "Waffe" einigermassen schnell als offensichtlich harmlos. Ich darf weiterfotographieren.
Zweite Runde Richtung Zion. Plötzlich kommt die Sonne raus, und ein strahlend blauer Himmel verzaubert die weisse Landschaft in ein Märchenland. Pater Matthias von der Dormitio lädt mich ein auf das Dach der Rotunde, nachdem mein Nachbar Issa mir vorher schon das Dach des Abendmahlssahls aufgeschlossen hat. Einfach herrlich. Wieder an der Klagemauer angekommen, wage ich etwas, was ich unter normalen Umständen niemals täte: Zugang zur Männerseite, striktest verbotenes Terrain. Aber die Verlockung ist einfach zu gross, und wider Erwarten lässt man mich gewähren. Die Sittenwächter nehmen es an diesem Tag nicht so
genau - ob nun, weil wegen der dicken Winterkleidung das Geschlecht nicht so
leicht erkennbar ist, oder einfach weil die Laune allgemein zum besten ist.
Nicht ganz
ernstgemeint ist vermutlich das "politische Statement" am anderen
Ende des Platzes: Eine grosse Schneefrau ziert den Fraueneingang, das weisse
Haupt mit einer Kippa bedeckt und den runden Körper eingehüllt in einen bunten
Gebetsschal. Den "echten" Frauen ist das Tragen dieser traditionell
männlichen Gebetsutensilien an der Klagemauer verboten. Ein Grund mehr für
viele, sich mit der kühlen Dame ablichten zu lassen.
Zum
Spiessrutenlauf wird angesichts des orientalischen Übermuts die Durchquerung so
mach einer der engen Altstadtgassen. Jungs haben sich auf den Hausdächern
postiert und zielen auf alles, was sich bewegt, mit schweren Schneebällen –
kein Entkommen. Die Soldaten, die ansonsten in den Gassen für Ordnung sorgen,
wärmen sich unterdessen die eingeschneiten Finger an einem arabischen Kaffee. Wie friedlich diese Stadt doch sein kann ;-)
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