Sonntag, 23. Juni 2013

Gänsehautfeeling


Minutenlanges Warten und Zittern, dann: der Name. Der Bruchteil einer Sekunde, und Palästina explodiert im Freudentaumel. Mohammed Assaf heisst das neue "Arab Idol" – und der neue Nationalheld, der Gaza, die Westbank und die ganze arabische Welt in seinen Bann gezogen hat. Binnen weniger Minuten füllen sich die Strassen in Ramallah mit Autokorsos und Menschenmassen. Ähnliche Szenen in Gaza, Bethlehem, Nazareth. Die Mehrheit auf zwei Beinen ist männlich und stolz. Auf vier Rädern (und sich in teils abenteuerlichsten Posen aus Fenstern und Türen der Blechkisten reckend), mit Fanfahnen oder auch mit Pali-Tuch und –Flagge bewaffnet: Ganze Familien, vom Kleinkind bis zur Grossmama, und von überall skandiert es in orientalisch-ohrenbetäubender Stärke "Assaf. Assaf. Assaaaaaaaaf!" Stimmung wie nach dem Sieg der Nationalmannschaft im WM-Finale.
Mohammed Assaf. Er ist jung, er ist hübsch, unschuldig und hat eine Wahnsinnsstimme. OK. Seine Geschichte ist die von Aschenbrödel. Vom Tellerwäscher-Millionär. Kind einer armen Familie, im Flüchtlingslager Khan Younis im Gazastreifen aufgewachsen und bis vor kurzem unbekannter Sänger auf Hochzeiten in seinem Umfeld. Über x Hindernisse hat er es buchstäblich in letzter Sekunde – als Letzter – zum Vorsingen nach Beirut geschafft, schon unter normalen Umständen kein leichtes Unterfangen. Bis dahin schöne Geschichte. Ein modernes Märchen.
Doch Mohammed Assaf ist mehr. Ohne Titel. Erst recht mit. Er ist eine "Rakete der Liebe und des Friedens, die über die Städte Palästinas fliegt, Jerusalem, Nazareth, Gaza und Ramallah". Sagte Jury-Mitglied Raghreb Alama. Und traf es damit auf den Punkt. Der kleine Junge mit der grossen Stimme ist das einende Symbol und die Identifikationsfigur, nach der sich ein im Innern zerstrittenes und durch die äussere Realität buchstäblich zerrissenes Volk so sehnte, dass es sich in gänsehautprovozierenden Freudenfeiern entlud. Oder, wie es "This week in Palestine" formuliert: Assaf hat die dritte Intifada lanciert. Eine Intifada gegen die Depression, für Hoffnung und Stärke und für den Willen, die Blockaden zu durchbrechen und mit der Welt in Kontakt zu treten.
Klar, dass es jetzt auch andere Interessenten an diesem Sieg gibt. Noch auf der Bühne wurde Mohammed Assaf von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas zum "Goodwill-Ambassador" Palästinas ernannt, Diplomatenpass inklusive. Es folgte der Titel als UNRWA-Jugend-Botschafter. Und Hamas-Vertreter, anfangs üperhaupt nicht begeistert von den Ambitionen des jungen Gazawiten, lobten seinen gottesfürchtigen Kniefall nach der erlösenden Nachricht über den Titelgewinn. Der jubelnden Masse ist das egal. Für sie ist Assaf "die goldene Stimme, die Palästinas Stimme ins Universum tragen wird". Sein Sieg ist ihr Sieg, vom jungen Sänger einem Volk gewidmet, dass "seit 60 Jahre unter der Besatzung leidet". Es ist der Grund, "die Keffiyeh hoch" zu halten.

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