Sonntag, 24. August 2014

nobody cares

"After the first child, nobody batted an eye; after the 50th not even a slight tremor was felt in a plane’s wing; after the 100th, they stopped counting; after the 200th, they blamed Hamas. After the 300th child they blamed the parents. After the 400th child, they invented excuses; after (the first) 478 children nobody cares. Then came our first child and Israel went into shock."
Es sei verständlich, dass Israel die eigenen Kinder stärker beweint, meint Gideon Levy (Haaretz, 24. August). Völlig unverständlich sei aber, dass palästinensische Kinder den Stellenwert von Insekten haben und angesichts von bislang 478 getöteten palästinensischen Kindern in dem jüngsten Krieg kein Aufschrei durch die israelische Gesellschaft gehe.

Donnerstag, 21. August 2014

Humanes Netzwerk

"Da muss, wie in einer zerrütteten Ehe, aus der beide Partner nicht herauskommen, ein Mediator her. Keine Amateurpsychologen oder Schreibtischstrategen wie Steinmeier oder Kerry, sondern Menschen mit Leidenserfahrung und der Fähigkeit zum Mitgefühl.
Und an dieser Stelle kommen die jüdischen Gemeinden in der Diaspora ins Spiel. Wie wäre es damit: Jede jüdische Gemeinde 'adoptiert' einen palästinensischen Kindergarten, eine palästinensische Schule, Hochschule oder eine andere kulturelle oder soziale Einrichtung in der Westbank und in Gaza, versucht, einen Kontakt herzustellen, und lädt dann Palästinenser, die in diesen Einrichtungen arbeiten, also die Multiplikatoren, zu einem Besuch ein: nach Antwerpen, Bielefeld, Kopenhagen, Liverpool, Mailand, Rotterdam, Salzburg, Triest, Uppsala, Warschau, Zagreb usw.
Im Gegenzug besuchen Juden aus diesen Gemeinden die von ihnen adoptierten Einrichtungen. Jüdische Schulen in der Diaspora bieten neben Hebräisch auch Arabisch an. So entsteht nach und nach ein humanes Netzwerk. Der Europäische Jüdische Kongress übernimmt die Koordination. Ein Programm dieser Art würde im Jahr weniger kosten als eine Woche Krieg in Gaza."
In Europa haben Juden keine Zukunft, deshalb sollte Israel den Palästinensern zu einem eigenen Staat verhelfen und Juden in aller Welt Projekte in Gaza fördern, meint Henryk Broder in einem Beitrag für "Die Welt" (18. August).

Sonntag, 17. August 2014

Das Unvorstellbare

Täglich habe ich während Wochen die Bilder der Zerstörung im Internet gesehen, täglich die brutalen Nachrichten von noch mehr Tod und Verwüstung gelesen. Mit der Waffenruhe will ich es selber sehen.
Haus in Gaza-Stadt
Ich habe es mir schlimmer vorgestellt, und ich schäme mich für dieses Eingeständnis vor mir selbst. Nein. Gaza sieht "nicht aus wie Dresden 1945", wie es ein Kollege treffend formuliert. Zumindest nicht überall. Weite Teile von Gaza-Stadt stehen noch, dazwischen immer wieder ein Haus, das ein Raketeneinschlag in Schutt und Asche gelegt hat, immer wieder Einschusslöcher. Strassenzüge im Osten bieten den Anblick auf Gebäude mit weggerissenen Fronten, durch den Rauch schwarz gefärbte Löcher in der Hülle der Häuser gibt den Blick frei auf das, was einmal das Heim von Menschen war. Ein paar Strassenzüge weiter sieht Gaza aus wie immer: arm, dreckig, chaotisch – Spuren der Angriffe gibt es hier kaum.
Munitionsreste im Innenhof der Kirche
Auf dem Hof der Pfarrei liegen verwaist Munitionsreste, zwei Stücke von kleineren Raketen, die vom Angriff auf das Nachbargebäude stammen. Teile von Schule und Kindergarten sind Mitleidenschaft gezogen. Doch erst, als ich die Räume betrete, in denen ich für gewöhnlich mein Nachtlager aufschlage, wenn ich in Gaza bin, dringt etwas wie Kriegsrealität zu mir durch. Kein Fenster ist mehr ganz, Glassplitter liegen weit verstreut auf dem Fussboden. Die Fensterrahmen wurden durch den Druck der Explosion aus der Wand gedrückt, auf einem Bett liegen Brocken einer Betonverstrebung. Zum Glück war es leer zum Zeitpunkt des Angriffs, wie auch alle anderen Betten im Haus. Physisch zu Schaden gekommen ist hier niemand, gottseidank.
Die Zwillinge wurden als Binnenflüchtlinge geboren in einem Klassenzimmer einer Schule, in das sich ihre Eltern vor den Luftangriffen geflüchtet haben

Ich frage meine Begleiter, welche Gebiete am stärksten betroffen sind und ernte fragende Gesichter. "Überall, davon gibt es viele!" Ich insistiere, bitte sie, mir einige der grössten Zerstörungen zu zeigen. Voyeuristisch? Vielleicht. Aber ich will es begreifen, muss es mit meinen Augen sehen.
Wir fahren nach Khuza'a, östlich von Khan Jounis und dicht an der Grenze zu Israel. Hier sieht Gaza aus wie "Dresden 1945". Kein "Stein" liegt mehr auf dem anderen, aus einer Wüste aus Staub und Trümmern ragen Skelette ehemaliger Häuser heraus. Betonpfeiler, die die Wucht der Explosion überlebt haben. Treppenhäuser, die ins Leere führen. Hier ein Bett, das schräg und surrealistisch aus etwas hervorsteht, was mal ein Schlafzimmer war. Dort eine Tür im ehemals oberen Stock eines Hauses, die jetzt in eine einzige Trümmerwüste führt. Der Gedanke, dass hier überall noch unexplodierte Munition liegen könnte, kommt uns erst, als wir inmitten der Schuttwüste stehen, und er wirkt surreal-absurd. Was soll hier noch schlimmeres passieren als die totale Zerstörung, die vor uns liegt. 
Khuza'a
"Seht her, schaut hin, was Israel uns angetan hat!" Der Blick, die Gesten, alles an Umm Achmed ist Klage und Anklage und Verzweiflung. Ein Plastikstuhl mit angebrochenen Beinen wird aus den Trümmern gefischt, ich auf ihn gesetzt inmitten der Familie, die in den Trümmern ihres Hauses ausharrt. Viel ist nicht übrig geblieben. Etwas zögerlicher als auf dem Hinweg klettern wir zurück über weitere Überreste bis zur staubigen Strasse. Wir fahren ein kleines Stück weiter in Richtung Israel. So gut wie kein Haus hier ist unbeschädigt, in den Überresten immer wieder Menschen, die versuchen zu begreifen, was ihnen geschehen ist.
Khuza'a
Diese Nacht verbringe ich in einem anderen als dem gewohnten Bett, nicht weniger herzlich aufgenommen von Menschen, die trotz der prekären Lage Raum machen für mich, die mich beherbergen und versorgen. Strom gibt es in dieser Nacht keinen, der kommt seit dem Krieg ohnehin nur etwa drei Stunden am Tag. Auch der Dieselgenerator schweigt in der Nacht. Durch das offene Fenster zum Friedhof dringt konstant ein leises Summen in das Zimmer, aber nur das Wissen, dass es sich um den Klang israelischer Drohnen und Luftüberwachung handelt, verleiht der Szenerie eine bedrohliche Note.
Khuza'a
Wie es sich anfühlt, Tag und Nacht über Wochen unter Beschuss zu stehen, habe ich meine Begleiter und meine Gastgeber gefragt. Wie es ist, im Krieg zu leben. Ich habe Trümmer und Zerstörung mit eigenen Augen gesehen, Verletzte, Flüchtlinge, Menschen mit nichts als ihren Kleidern am Leib als letzte Habe. Zerfetzte Familienfotos und andere private Habseligkeiten in den Schutthalden. Sanitäter des Roten Halbmonds, die unter provisorischen Zeltplanen auf Trümmerhaufen ihre Patienten versorgen, Menschentrauben, die sich, Rezepte und Ausweise in die Luft streckend, um den Ambulanzwagen drängen. Kinder, die an Wassertanks in Strassen brackiges Wasser abfüllen. Familienväter, die in langen Schlangen anstehen, um ein Lebensmittelpaket von Hilfswerkshelfern zu erhalten. Oder eine Flasche Gas und einen Kocher. Säuglinge, die inmitten der Grossfamilie in Klassenzimmern geboren sind und deren Mütter versuchen, mit durch den Raum gespannten Decken und Tüchern ein kleines bisschen Intimität zu erhalten.
Khuza'a
Schon vor dem jüngsten Krieg war die Lage in Gaza prekär, waren Armut und Arbeitslosigkeit omnipräsent, hingen rund 80 Prozent der Menschen von Hilfe ab, waren die Narben der letzten Kriege auf der Oberfläche der Stadt sichtbar. Vielleicht ist es deshalb so schwierig, jetzt die Katastrophe zu sehen, brauchen wir deshalb die Zahlen von Tod und Zerstörung, um uns ihr Ausmass vor Augen zu führen?
Khuza'a
Irgendwie bleibt das Gesehene unvorstellbar, und der Schock setzt abrupt erst ein, als ich in den Nachrichten vom Tod zweier Kollegen lese. So wie wir sind sie über die Trümmerfelder geklettert, um sich ihr eigenes Bild zu machen, vielleicht mit demselben Drang, beim Unvorstellbaren wenigstens hinzusehen. Ein Blindgänger wurde ihnen zum Verhängnis. Zusammen mit vier Sicherheitskräften starben sie bei der Detonation unexplodierter Munition in Beit Lahiya im Norden von Gaza. Sechs mehr in der Statistik, mit der wir uns die Sinnlosigkeit dieses Kriegs vor Augen führen.
Khuza'a

Samstag, 16. August 2014

Warsaw Ghetto

"Personally, I’m in favour of Gaza getting all those things. But Netanyahu could have offered them to Palestinian Authority President Mahmoud Abbas during the Kerry talks, or to the Fatah-Hamas unity government that Abbas forged, and the Palestinian benefactor would have been the non-violent, moderate PA instead of the violent, immoderate Hamas. Oh, one other thing: There wouldn’t have been a war that killed 2,000 people, made much of Gaza look like the Warsaw Ghetto."
Journalist Larry Derfner äussert im Beitrag "In ceasefire talks, Netanyahu is letting Hamas win Gaza war" für "+972" (15. August) sein Unverständnis über das Vorgehen Netanjahus, dessen Zugeständnisse wie Grenzöffnung, Wareneinfuhr und Ausweitung der Fischereizone von der Hamas als Sieg beansprucht würden.

Donnerstag, 14. August 2014

Frei Haus

"Der Antisemitismus-Vorwurf funktioniert wie ein Bewegungsmelder. Jemand muss nur ein paar Reizwörter kombinieren, schon bekommt er ihn frei Haus geliefert. Geht es eigentlich überhaupt noch um Israel? Oder geht es vielmehr darum, das böse alte Lieblingstier der Deutschen an der Kette durch den Argumentationspark zu führen: eben jenen Antisemitismus, von dem ein Grossteil der Publizisten, die derzeit das Vorgehen Israels verteidigen, mit der gewohnten Küchenpsychologie annimmt, dass er in jedem Deutschen schlummert und nur Anlässe wie den gegenwärtigen braucht, um sich loszureissen und auffällig zu werden?"
Redaktor Hilmar Klute kritisiert in der "Süddeutschen Zeitung" (13. August), dass israelische Kritiker des Gaza-Kriegs keine Unterstützung erfahren. In Deutschland suche man lieber nach einfachen Wahrheiten, statt sich mit jenem Israel solidarisch zu zeigen, "das gewissermaßen aus der zweiten Reihe an die Vernunft appelliert".

Der Fussball

Samstag, 9. August 2014

Der Fussball

Bei mir in der Küche liegt ein Fussball. Gelb, aus Plastik, in einer der typischen schwarzen Plastiktüten, wie sie, achtlos weggeworfen, zu Tausenden das Land verschandeln. Keine besondere Qualität, einfach ein Fussball, wie er wohl von hunderten Kindern auf staubigen Strassen und Feldern gebolzt wird. Doch an diesem Fussball hängt ein Versprechen. Mein Versprechen. Ich werde ihn nach Gaza bringen, am Sonntag oder am Montag, habe ich zu dem Priester gesagt, der mir den Ball und einen Umschlag in die Hände gedrückt hat. Das war während der dreitägigen Waffenruhe, in der Illusion, die momentane Feuerpause werde natürlich verlängert werden, das seit vier Wochen andauernde sinnlose Blutvergiessen werde natürlich ein vorläufiges Ende finden. Bevor in zwei, vielleicht drei, bestenfalls vier Jahren die nächste Runde der Gewalt das in der Atempause Wiederaufgebaute einmal mehr dem Erdboden gleich macht. Ein Versprechen brechen zu müssen, in einer Situation wie der gegenwärtigen in Gaza nach Wiederaufnahme der Kämpfe, ist, gelinde gesagt, ein Luxusproblem. Aber an dem Fussball und meinem Versprechen hing auch meine Hoffnung. Dass die kleinen Adressaten des hässlichen gelben Plastikballs ihn – über Geröllhaufen vielleicht, aber doch wenigsten ohne die Angst vor erneutem Beschuss – wie hunderte andere Kinder auf staubigen Strassen und Feldern bolzen können.

Freitag, 8. August 2014

born in gaza


Es fällt mir schwer, die Intimität der Szene mit meiner Kamera zu durchbrechen. Es fällt mir schwer, das kleine Wesen in seinem Bettchen auf der Intensivstation anzuschauen mit dem Wissen, dass die Ärzte ihm eigentlich kaum eine Überlebenschance einräumen. Für das Leid des winzigen Etwas kann niemand etwas, es ist mit einer schweren Fehlbildung geboren. Der Lauf der Natur, versuche ich mir zu sagen, während ich gegen meine Tränen kämpfe. Ebenfalls mit Tränen in den Augen schaut mich der Opa des Babys an. Ob ich ihm vielleicht eines der Fotos geben könnte, fragt er mit brüchiger Stimme. Und mir geht ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der möglicherweise das einzige, was einer Mutter bleibt, das Foto ist, was eine Journalistin von ihrem Neugeborenen gemacht hat. Weil sie zufälligerweise in einem Krisengebiet geboren wurde, hinter Mauern und Checkpoints, die ihr die Wache am Bett ihres todkranken Kindes verwehren.