Sonntag, 17. August 2014

Das Unvorstellbare

Täglich habe ich während Wochen die Bilder der Zerstörung im Internet gesehen, täglich die brutalen Nachrichten von noch mehr Tod und Verwüstung gelesen. Mit der Waffenruhe will ich es selber sehen.
Haus in Gaza-Stadt
Ich habe es mir schlimmer vorgestellt, und ich schäme mich für dieses Eingeständnis vor mir selbst. Nein. Gaza sieht "nicht aus wie Dresden 1945", wie es ein Kollege treffend formuliert. Zumindest nicht überall. Weite Teile von Gaza-Stadt stehen noch, dazwischen immer wieder ein Haus, das ein Raketeneinschlag in Schutt und Asche gelegt hat, immer wieder Einschusslöcher. Strassenzüge im Osten bieten den Anblick auf Gebäude mit weggerissenen Fronten, durch den Rauch schwarz gefärbte Löcher in der Hülle der Häuser gibt den Blick frei auf das, was einmal das Heim von Menschen war. Ein paar Strassenzüge weiter sieht Gaza aus wie immer: arm, dreckig, chaotisch – Spuren der Angriffe gibt es hier kaum.
Munitionsreste im Innenhof der Kirche
Auf dem Hof der Pfarrei liegen verwaist Munitionsreste, zwei Stücke von kleineren Raketen, die vom Angriff auf das Nachbargebäude stammen. Teile von Schule und Kindergarten sind Mitleidenschaft gezogen. Doch erst, als ich die Räume betrete, in denen ich für gewöhnlich mein Nachtlager aufschlage, wenn ich in Gaza bin, dringt etwas wie Kriegsrealität zu mir durch. Kein Fenster ist mehr ganz, Glassplitter liegen weit verstreut auf dem Fussboden. Die Fensterrahmen wurden durch den Druck der Explosion aus der Wand gedrückt, auf einem Bett liegen Brocken einer Betonverstrebung. Zum Glück war es leer zum Zeitpunkt des Angriffs, wie auch alle anderen Betten im Haus. Physisch zu Schaden gekommen ist hier niemand, gottseidank.
Die Zwillinge wurden als Binnenflüchtlinge geboren in einem Klassenzimmer einer Schule, in das sich ihre Eltern vor den Luftangriffen geflüchtet haben

Ich frage meine Begleiter, welche Gebiete am stärksten betroffen sind und ernte fragende Gesichter. "Überall, davon gibt es viele!" Ich insistiere, bitte sie, mir einige der grössten Zerstörungen zu zeigen. Voyeuristisch? Vielleicht. Aber ich will es begreifen, muss es mit meinen Augen sehen.
Wir fahren nach Khuza'a, östlich von Khan Jounis und dicht an der Grenze zu Israel. Hier sieht Gaza aus wie "Dresden 1945". Kein "Stein" liegt mehr auf dem anderen, aus einer Wüste aus Staub und Trümmern ragen Skelette ehemaliger Häuser heraus. Betonpfeiler, die die Wucht der Explosion überlebt haben. Treppenhäuser, die ins Leere führen. Hier ein Bett, das schräg und surrealistisch aus etwas hervorsteht, was mal ein Schlafzimmer war. Dort eine Tür im ehemals oberen Stock eines Hauses, die jetzt in eine einzige Trümmerwüste führt. Der Gedanke, dass hier überall noch unexplodierte Munition liegen könnte, kommt uns erst, als wir inmitten der Schuttwüste stehen, und er wirkt surreal-absurd. Was soll hier noch schlimmeres passieren als die totale Zerstörung, die vor uns liegt. 
Khuza'a
"Seht her, schaut hin, was Israel uns angetan hat!" Der Blick, die Gesten, alles an Umm Achmed ist Klage und Anklage und Verzweiflung. Ein Plastikstuhl mit angebrochenen Beinen wird aus den Trümmern gefischt, ich auf ihn gesetzt inmitten der Familie, die in den Trümmern ihres Hauses ausharrt. Viel ist nicht übrig geblieben. Etwas zögerlicher als auf dem Hinweg klettern wir zurück über weitere Überreste bis zur staubigen Strasse. Wir fahren ein kleines Stück weiter in Richtung Israel. So gut wie kein Haus hier ist unbeschädigt, in den Überresten immer wieder Menschen, die versuchen zu begreifen, was ihnen geschehen ist.
Khuza'a
Diese Nacht verbringe ich in einem anderen als dem gewohnten Bett, nicht weniger herzlich aufgenommen von Menschen, die trotz der prekären Lage Raum machen für mich, die mich beherbergen und versorgen. Strom gibt es in dieser Nacht keinen, der kommt seit dem Krieg ohnehin nur etwa drei Stunden am Tag. Auch der Dieselgenerator schweigt in der Nacht. Durch das offene Fenster zum Friedhof dringt konstant ein leises Summen in das Zimmer, aber nur das Wissen, dass es sich um den Klang israelischer Drohnen und Luftüberwachung handelt, verleiht der Szenerie eine bedrohliche Note.
Khuza'a
Wie es sich anfühlt, Tag und Nacht über Wochen unter Beschuss zu stehen, habe ich meine Begleiter und meine Gastgeber gefragt. Wie es ist, im Krieg zu leben. Ich habe Trümmer und Zerstörung mit eigenen Augen gesehen, Verletzte, Flüchtlinge, Menschen mit nichts als ihren Kleidern am Leib als letzte Habe. Zerfetzte Familienfotos und andere private Habseligkeiten in den Schutthalden. Sanitäter des Roten Halbmonds, die unter provisorischen Zeltplanen auf Trümmerhaufen ihre Patienten versorgen, Menschentrauben, die sich, Rezepte und Ausweise in die Luft streckend, um den Ambulanzwagen drängen. Kinder, die an Wassertanks in Strassen brackiges Wasser abfüllen. Familienväter, die in langen Schlangen anstehen, um ein Lebensmittelpaket von Hilfswerkshelfern zu erhalten. Oder eine Flasche Gas und einen Kocher. Säuglinge, die inmitten der Grossfamilie in Klassenzimmern geboren sind und deren Mütter versuchen, mit durch den Raum gespannten Decken und Tüchern ein kleines bisschen Intimität zu erhalten.
Khuza'a
Schon vor dem jüngsten Krieg war die Lage in Gaza prekär, waren Armut und Arbeitslosigkeit omnipräsent, hingen rund 80 Prozent der Menschen von Hilfe ab, waren die Narben der letzten Kriege auf der Oberfläche der Stadt sichtbar. Vielleicht ist es deshalb so schwierig, jetzt die Katastrophe zu sehen, brauchen wir deshalb die Zahlen von Tod und Zerstörung, um uns ihr Ausmass vor Augen zu führen?
Khuza'a
Irgendwie bleibt das Gesehene unvorstellbar, und der Schock setzt abrupt erst ein, als ich in den Nachrichten vom Tod zweier Kollegen lese. So wie wir sind sie über die Trümmerfelder geklettert, um sich ihr eigenes Bild zu machen, vielleicht mit demselben Drang, beim Unvorstellbaren wenigstens hinzusehen. Ein Blindgänger wurde ihnen zum Verhängnis. Zusammen mit vier Sicherheitskräften starben sie bei der Detonation unexplodierter Munition in Beit Lahiya im Norden von Gaza. Sechs mehr in der Statistik, mit der wir uns die Sinnlosigkeit dieses Kriegs vor Augen führen.
Khuza'a

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