Montag, 2. März 2015

Der schwarze Fleck auf Israels Seele



© Quique Kierszenbaum
Ein Vegetarier, der die Argumente der Tierrechtsaktivisten für dehumanisierend hält. Aktivist gegen die israelische Besatzung, aber "weder pazifistisch noch pro-palästinensisch". Ein "orthodoxer Jude", der "in der modern-säkularen Welt des 21. Jahrhunderts" lebt. "Professionell schizophren", lautet die leicht ironische Selbstbeschreibung Yehuda Shauls. Der "Breaking the Silence"-Mitgründer passt nicht so ohne weiteres in eine Schublade. Ausgerechnet einen Ort, an dem es "kein Grau" gibt, ist für ihn der Ort, an dem "beide Teile meiner Identität zusammenkommen im gleichen Kampf": Hebron, Hotspot des israelisch-palästinensischen Konflikts und Lehrstück der israelischen Besatzungspolitik. 

Hebron. Die grösste palästinensische Stadt in der Westbank ist eine geteilte Stadt. 190.000 Palästinenser, 850 israelische Siedler, 650 Kampfsoldaten zu deren Schutz. 1.800 geschlossene palästinensische Geschäfte in der Altstadt und für Palästinenser nicht oder nur eingeschränkt betretbare Pufferzonen. H1 und H2 lautet technisch steril seit den Oslo-Abkommen das Konstrukt: H1 umfasst 80 Prozent der Stadt. H2 ist unter vollständiger israelischer Kontrolle und umfasst alles, "was Hebron zu Hebron macht: die Patriarchengräber, die Siedlungen, die Altstadt".

"Wir haben Zeit?" Die Frage ist rhetorisch, Yehuda ist vorbereitet. Rot, orange, violett markieren die Farben auf der Karte die Segregationslinien einer Geisterstadt. "Wer verstehen will, wie die Stadt heute aussieht, muss zurückschauen." Jehuda skizziert in grossen Schritten ihre Geschichte. Da sind die Patriarchengräber, Mütter und Väter beider Nationen in relativ friedlicher Koexistenz. Dann kam das Massaker von 1929, das der organisierten jüdischen Gemeinschaft in Hebron ein Ende bereitete – die Grundlage der Siedlungen: "Der Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinschaft war eine Frage der nationalen Ehre." 

Yehudas Formel ist einfach und ein bisschen zynisch. Wer sagt, Hebron sei ein Extremfall, hat nichts verstanden. Wer aber Hebron verstanden hat, hat das Einmaleins der israelischen Besatzung verstanden: "Hebron ist ein Geschenk Gottes, ein Mikrokosmos. Wenn Du ihn einen halben Tag lang durchwanderst, lernst Du, wie wir die Westbank kontrollieren: Teile und herrsche. Separation. Siedlungen. Einschüchterungen. Den Fuss auf dem Land, wie jede andere Kolonialmacht."

Yehuda Shaul hat Hebron oft durchwandert. Zuerst als Soldat zum Schutz der Siedler. Später dann mit israelischen und ausländischen Besuchern im Gefolge, in der Überzeugung, dass "dies enden sollte, nicht nur wegen meiner Flagge, sondern auch wegen dem, was es dem Judentum antut". "Wir von Breaking the Silence glauben, dass unsere Armee ihrem Namen "Verteidigungskräfte" gerecht werden sollte, statt Instrument der Unterdrückung und Besatzung zu sein. Wir glauben an dieses komische Konzept, dass Menschen sich selber regieren und nicht durch eine fremde Militärmacht beherrscht werden sollten. Leider gilt das in diesem Teil der Welt als sehr radikale Idee." Das T-Shirt, das der Hüne mit dem dichten Bart an diesem Tag trägt, ist leuchtend orange, etwas weniger grell nur als das der Siedler.

 Hebron, sagt Yehuda, "ist ein Ort der Wahrheit, an dem es kein Grau gibt". Diese Wahrheit macht nur Sinn für den, der "mit den Augen der israelischen Autoritäten" schaut. "Nur aus dieser Perspektive heraus ist es egal, wer am Anfang der Gewalt steht." Dann nämlich, wenn es zwei unhinterfragte Prämissen gibt: "Wir haben Siedlungen. Und zweitens: Die Siedler sind israelische Bürger und verdienen ein Leben wie jeder andere israelische Bürger Also bedenken wir die Zahl der Soldaten im Einsatz, die Gefahren. Nur eins bedenken wir nicht: 190.000 Palästinenser. Entweder glaubst Du, dass wir wegen der Patriarchengräber und 1929 tausende von Menschen auf ewig ohne Würde und Rechte halten dürfen. Oder nicht."

Yehuda Shaul glaubt nicht Er stellt Fragen. Spricht von Rassismus und überschrittenen roten Linien. Von militärischer Segregationspolitik, Siedlergewalt und fehlender Strafverfolgung. Von Israels Regime in Hebron als "moralische Abscheulichkeit" und "schwarzem Fleck auf der Seele Israels und des Judentums". "Die Siedlungen", sagt er "müssen evakuiert werden. Das heisst nicht, dass ich glücklich bin. Aber auf einer Skala der Gerechtigkeit ist eine andauernde militärische Besatzung von Millionen von Menschen viel schlimmer, als wenn mir nicht erlaubt wird, morgen die Patriarchengräber zu besuchen". 

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