Sonntag, 1. Juli 2018

Jerusalem ist nicht mehr

"Wenn ich nicht antworte, musst Du noch mal anrufen, manchmal bin ich einfach nicht zuhause." Wenn er aber zuhause war, öffnete der orthodoxe Christ die Tür mit einem ebenso ausgetüftelten wie hausgemachten System aus Schnüren und Kabeln, stand auf dem Treppenabsatz im oberen Stockwerk und freute sich mit fast kindischer Freude, dem mühsamen Treppenhaus ein Schnippchen geschlagen zu haben. Dann lud er den Besucher in die Maschrabiyya ein, den Vorsprung in dem traditionellen Erkerfenster seines Altstadthauses, von dem der damals junge Zahnarzt im Sechstagekrieg die ersten Soldaten durch die Straßen seiner Stadt ziehen sah. John Tleel, geboren 1928, hat einen Jerusalemer Stammbaum, der sich bis 1615 zurückverfolgen lässt. "Ich bin Jerusalem", war seine Standardantwort, frug man ihn, wer er sei. "Ich bin Jerusalem, und es ist nicht leicht, Jerusalem zu sein." John Tleel war Zeitzeuge: für die Entstehung des Staates Israels, für die Kriege um Jerusalem, für die Annäherung unter den Christen, für viele Veränderungen in "seinem" Jerusalem. "Als Jerusalem klein war, war es groß. Heute ist es alles, nur nicht Jerusalem", sagte er wiederholt, ohne dabei dem Pessimismus zu verfallen, denn schließlich steht "Jerusalem über dem Menschen, sie ist der Geburtsort der Religionen und Wunder". Und "wer in Jerusalem getauft ist, ist für sein Leben und das danach getauft". 
John Tleel starb am 1. Mai, mit ihm ein Stück des alten, irdischen Jerusalem.

 
 

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