Montag, 20. Mai 2019

Jahreskreis

Gelb leuchtet der Weizen auf dem Streifen Land zwischen Autobahn und Schnellstraße. Darinnen: Drei weiße Flecken, die wie das Getreide im lauen Lüftchen zittern. Auf den ersten Blick könnte man sie für Vogelscheuchen halten. Beim näheren Hinsehen haben die vermeintlichen Vogelscheuchen Bärte und die lange Schläfenlocken strengreligiöser Juden. In der Mittagssonne, mitten in der ersten Hitzewelle des Jahres, eingehüllt in den Tallit, den jüdischen Gebetsschal mit den charakteristischen Fransen an seinen vier Ecken, bewegen sie sich langsam durch die Furchen.
Auf den 50. Tag nach Pessach, in diesem Jahr den 9. Juni, fällt das jüdische Wochenfest "Schawuot", Zeit der Weizenernte. Der Weizen in diesem Feld, dessen Ähren dem kritischen Blick der Männer standhalten muss, soll im nächsten Jahr zum Backen der am strengsten kontrollierten, ungesäuerten Pessachbrote – der sogenannten Schmura-Matzen – dienen. Dafür muss das Korn an der Ähre reifen. Erst, wenn es einen niedrigen Feuchtigkeitsgrad erreicht hat, darf es geerntet werden, auf die Gefahr hin, dass später Regen den Weizen für seine besondere Bestimmung unbrauchbar macht.
Und so schließt sich, auf einem Weizenfeld inmitten der Auswüchse der modernen Welt, mit einem archaisch anmutenden Ritual der ewig währende Kreislauf der Gläubigen: Grad einen Monat ist das Pessachfest vorüber, und schon geht es an die Vorbereitung des nächsten Pessachfests.

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