Montag, 25. Mai 2020

Verwirrung

"Open, closed, open" lautet der Titel eines Gedichtbands von Jehuda Amichai. Die weniger lyrische Übertragung auf eine der heiligsten Stätten der Christenheit müsste gegenwärtig lauten: Closed, open, closed. Eigentlich sollte die Grabeskirche am Sonntagmorgen, zwei Monate nach ihrer Covid-19-bedingten Schliessung, wieder für Beter und Besucher die Türen öffnen. Das verbreitete sich ab Mittwoch via Facebook & Co. auf den inoffiziellen Kanälen, am Samstagmittag gaben es die drei massgeblichen Konfessionen mit einer (rückdatieren) Stellungnahme auch offiziell bekannt. De facto herrschten Verwirrung und Chaos.


Immer um Mitternacht öffnet die Grabeskirche in der Nacht zu Sonntag nach dem Status Quo. An allen anderen Tagen vollzieht sich das althergebrachte Spektakel der Türöffnung mit Leiter, Schlüsselwärter und Aufschliesser um 5 Uhr morgens. In freudiger Erwartung hatten sich also am Sonntag in aller Herrgottsfrühe vereinzelte Gläubige vor den schweren Holztoren eingefunden. 

Dahinter, mit ein paar Metern Abstand aufgereiht wie auf einer Perlenkette, ein gutes Dutzend Kolleginnen und Kollegen mit Kameras und Mikrophonen. Am obersten Ende des Kirchplatzes: die diensthabenden Polizisten beim Schichtwechsel. Keiner kann sich erinnern, dass die Grabeskirche je so lange für Besucher von aussen geschlossen war.


Langsam bricht der Tag an, und für die Jahreszeit völlig unüblicher Regen und Wind setzen ein. Nur an der Tür tut sich nichts. Von  Polizei, Kollegen und per SMS von Geistlichen im Innern der Kirche kommend, kreuzen sich widersprüchliche Angaben. Um acht Uhr mache sie auf, aber nur für Journalisten, dann wieder heisst es um zehn Uhr, um elf Uhr, nächste Woche. 

Viertel vor acht etwa öffnet sich die eine Tür von innen einen Spalt. Eine Gruppe koptische Geistliche taucht ein in das Halbdunkel, die Tür schliesst. Die Gläubigen müssen draussen bleiben. Kurz darauf: erneutes Knarren des Holzes, diesmal öffnen sich beide Flügel von innen. Aufgereiht auch hier: Geistliche und Mönche der verschiedenen Konfessionen. 


Die Schwelle in das Gotteshaus bleibt weiter Sperrgebiet, nur eine grössere Gruppe griechischer Geistlicher und Seminaristen darf rein, mit ihnen vereinzelte Laien. Die Tür schliesst sich erneut. Erst kommenden Sonntag, sagt der armenische Father Samuel, werde die Kirche wirklich öffnen. Von einer graduellen Öffnung spricht später der Franziskanerkustos. Immer wieder wird sich am Tag die Türe für einen kurzen Moment öffnen, um offizielle Liturgieteilnehmer der verschiedenen Konfessionen für die Dauer einer Feier zu verschlucken und anschliessend wieder ans Tageslicht zu spülen. Fussvolk und Kameras stehen unterdessen in einem Gemütszustand zwischen konsterniert, amüsiert und frustriert draussen im Regen.


Samstag, 23. Mai 2020

Rare Momente

Es ist Schabbat, einer der ersten mit relativen Lockerungen der Covid-19-Restriktionen, und es ist der letzte Tag des Ramadan. Nach einer guten Woche Hitzewelle haben sich die Temperaturen selbst in der Sonne auf ein erträgliches Mass abgekühlt. Den ganzen Tag über herrscht in der Altstadt fast vergessenes buntes Treiben. Die Souvenir- und Devotionalienläden sind mehrheitlich noch geschlossen, Lebensmittelstände, Hummusläden und vor allem Süssigkeitenverkäufer aber finden regen Zuspruch. Nicht nur das Wochenende und das bevorstehende Ende der muslimischen Fastenzeit versetzen die Stadt in eine besondere Stimmung: Jerusalem gehört mangels Pilgern und Touristen für einmal ganz und gar ihren Bewohnern. Und mit der sich senkenden Sonne zieht es viele von ihnen auf die Dächer der Altstadt, die einen, um auf den Beginn einer neuen Woche zu warten, die anderen, um mit dem Kanonenschlag zum Sonnenuntergang ein letztes Mal für dieses Jahr das Fasten zu brechen und Eid il-Fitr einzuläuten. Und dann in einem für Jerusalem wohltuend ignoranten Nebeneinander zeitgleich die erste Zigarette des Tages anzuzünden.

Dienstag, 19. Mai 2020

Nie so einig

"Give credit where credit is due. Even before Benjamin Netanyahu and Benny Gantz, together with their cronies and allies, were sworn in on Sunday in the Knesset, they achieved one of their new government’s central missions: They promised unity, and unity they have provided. The Israeli public was never so unanimous in sharing such a collective sense of disgust and revulsion."
Chemi Shalev kommentiert für "Haaretz" (18. Mai 2020) Netanjahus neue Regierung

Freitag, 17. April 2020

Dem Balkon sei Dank

Auf Ostern in Jerusalem folgt bei mir üblicherweise ein kleines Loch. Runterfahren von der Intensität, die diese Tage am Originalschauplatz bieten. Dass es diesmal so heftig ausfallen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Schon mit meiner Erwartung eines entschleunigten Ostern lag ich daneben. Gefeiert wurde ja trotzdem, nur anders. Die einzigartige Situation brachte genug Arbeit mit sich - nur ohne die über Jahre angehäufte Routine.
Sechs Wochen dauern Quarantäne, gefolgt von immer schärferen Einschränkungen, nun schon an - bis hin zu wiederholten völligen Ausgangssperren. Die Spannungen sind seither spürbar gewachsen, ebenso die Präsenz von Militär und Polizei in den Straßen. Die Altstadt - durch Stadttore einfach zu kontrollieren - gleicht zeitweise einer Festung aus Checkpoints und mobilen Kontrollteams, die einen alle Weile nach der Berechtigung des Draußenseins befragen. 


So oder so ähnlich müssen sich Untergrundkämpfer im Krieg gefühlt haben, denke ich, und frage den 96-jährigen Bekannten, der im Holocaust in der französischen Resistance kämpfte. Am ersten Checkpoint mit gefälschter Identität hat man noch Angst, sagt er. Sie sinke mit jeder weiteren Kontrolle - bis man irgendwann vergisst, dass die Identität gefälscht sei.
Zur Resistance-Kämpferin tauge ich ganz offenbar nicht. Die ständige Alarmbereitschaft kostet, und bei mir steigt der Stresspegel bei jeder Kontrolle, ganz ohne dass meine Identität gefälscht wäre. Die Ausreden, die ich mir für meine täglichen kleinen Fluchten zum Laufen bereitgelegt habe, sitzen mittlerweile wie ein Mantra auch auf Hebräisch; manchmal träume ich von ihnen.
Heute jedenfalls brauchte ich sie, war ich doch beim verbotenen Joggen in eine Straßensperre geraten. Nach einer halben Stunde Befragung wurde ich mit einer Verwarnung ziehen gelassen. Nicht etwa, weil meine Ausreden (oder gar mein Hebräisch) so gut waren. Der alphanumerische deutsche Pass war nicht mit dem numerischen israelischen System vereinbar, der betreffenden Einsatzkraft der Weg zur nächsten Wache zu weit.


Der Dämpfer brachte bei mir erste Anzeichen des Lagerkollers mit sich, verschärft durch die immer schwieriger zu ertragende Omnipräsenz der Nachbarn. In der Altstadt leben wir wie in einem Hühnerstall aufeinander; an guten Tagen nicht immer konfliktfrei, in Zeiten wie diesen unerträglich.
Nach den Feiertagen werden sie die Einschränkungen lockern, äußern viele Freunde immer wieder ihre Hoffnung. Doch Feiertage in einer multireligiösen Stadt wie Jerusalem scheinen in Corona-Zeiten schlicht endlos. Auf den Auftakt des jüdischen Pessachfests folgt Ostern nach Gregorianischem Kalender; folgt der Abschluss von Pessach, folgt Mimouna, das marokkanische Nachpessachfest; folgt Ostern nach Julianischem Kalender, folgt Ramadan. Folgt Pfingsten, folgt Schawuot. Doch soweit mag ich gar nicht denken.


Jeder Feiertag als potentieller Anlass für eine erneute komplette Ausgangssperre, die mit zunehmender Härte umgesetzt wird, während Ministerpräsident, Staatspräsident und Gesundheitsminister die selbst gesetzten Regeln fröhlich und öffentlich dokumentiert brechen. Besagter Gesundheitsminister stellte übrigens das Kommen des Messias in Aussicht, irrte allerdings beim Datum (bis Pessach, oder vergaß er nur das Jahr?).
Unterdessen ist, von der Öffentlichkeit beinahe unkommentiert, das Mandat des Netanjahu-Herausforderers Benny Gantz zur Regierungsbildung abgelaufen; hat Staatspräsident Reuven Rivlin das Parlament an seiner statt mit der Regierungsbildung beauftragt; ist das Land wieder einen Schritt näher an den vierten vorgezogenen Neuwahlen binnen weniger als 18 Monaten. Aber da sich gegenwärtig schon Tage wie eine Ewigkeit anfühlen, ist bis dahin ja (gefühlt) noch etwas Zeit.

Dienstag, 14. April 2020

Mittendrin und einsam-gemeinsam

Klar ist es ein Privileg, dort sein zu dürfen, wo zu den hohen Feiertagen wohl die meisten Gläubigen gern wären: am Originalschauplatz. Damit ist man jedoch üblicherweise auch immer mitten drin: im Gedränge.
 

Einsam-gemeinsam. So liessen sich stattdessen die vergangenen Tage beschreiben, in die neben dem jüdischen Pessachfest auch die Heilige Woche und das Osterfest nach dem gregorianischen Kalender fielen. Gefeiert wurde, aber eben nicht wie üblich im Gedränge der Menge, sondern in der Kernfamilie, im extremsten Fall allein. Wo die Palmprozession abgesagt wurde, kamen gesegnete Palmzweige in Körben zu den Häusern der Menschen. Wo sie aufgrund von Ausgangssperren nicht zum traditionellen Kreuzweg auf die Via Dolorosa kommen konnten, zog der Pfarrer mit seinem Kreuz durch die engen Gassen des christlichen Viertels, bauten engagierte Gläubige Kreuze in ihren Nachbarschaften auf. Wo das gemeinsame Gebet aus Virenschutz verboten war, versammelten sich Juden zu Pessach in Gebetsschals auf den Dächern ihrer Häuser, um jeder für sich und trotzdem zusammen Gott zu preisen. Wo optische (Über)Reize zur Leere werden, übernimmt das Akustische: Osterhymnen und Torahlesungen sozusagen frei Haus, ein hörbares Add-On zum üblichen Klangteppich aus Glocken und Muezzinen. Dann und wann (nach den Regeln des Status Quo, an denen auch in Pandemiezeiten nicht gerüttelt wird) öffneten sich die Tore der Grabeskirche, um den Erzbischof mit weniger als einer Handvoll Begleitern in die Dunkelheit zu verschlucken. Gesänge und Orgelklänge hinter verschlossenen Türen schufen ein ebenso surreales wie vertrautes Bild.
 

Und ich? Bin immer noch privilegiert. Weil ich zum Arbeiten raus darf, und meine Arbeit auch darin besteht, diese ungesehenen Szenen sichtbar zu machen. Wenn ich aber gedacht hatte, statt Pilgerflut würden Ruhe und Entschleunigung einkehren und ich für einmal nichts machen, noch nicht einmal feiern – dann lag ich falsch. Die Stadt selbst, scheint es, wird zum Gottesdienst.

Samstag, 21. März 2020

Der Himmel über Jerusalem


Wo anfangen? Vielleicht mit der Überraschung, die zur Überraschung wurde. Als ich Ende Februar den Flieger bestieg, um meinen Vater zu seinem Geburtstag zu überraschen, machte ich mir zwar Gedanken, ob der Blitzbesuch für meine Eltern (Risikogruppe!) bedenklich sein könnte. Dass das Deutschlandwochenende mich nach Rückkehr in zweiwöchige Quarantäne befördern würde, damit hatte ich nicht gerechnet.


Ich hielt mich dran, meistens, nur nachts wurden die Laufschuhe ausgeführt, tagsüber isoliert vom heimischen Wohnzimmer (und bei Sonne vor der Wohnungstür auf der Terrasse) gearbeitet. Lebensmittel wurden von Freunden vor die Tür geliefert eigentlich ganz praktisch (die Bestellung eine Schachtel Tampons wurde allerdings ignoriert). Und vermutlich habe ich noch nie so viele Blumen geschickt bekommen, zweitweise musste ich auf dem Wohnzimmertisch Platz für den Laptop suchen. Als sich Hinweise auf größere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit mehrten, musste die Quarantäne dann aber doch einmal wirklich gebrochen werden, zum Katzenfuttereinkauf zusammen mit der Kollegin der DW (und der Instinkt hat nicht getrügt: Wir waren tatsächlich die letzten, die noch in den Laden gelassen wurden…). Seit Sonntag gilt, dass nur noch "systemrelevante" Dienste aufrechterhalten werden dürfen.

Dann endlich, Montag. Quarantänefrei. Raus aus dem Haus. Fotografieren in einer Stadt, die ich noch nie so menschenleer gesehen habe. Erstaunen darüber, dass in der Altstadt weiterhin einzelne Cafés und nicht ganz so einzelne Souvenirläden geöffnet haben und dass es immer noch Menschen gibt, die etwa den Salbstein in der Grabeskirche oder die Klagemauer küssen und streicheln. Dienstag noch eine zweite Runde über Klagemauer, Grabeskirche und Altstadt, dann am Abend die Nachricht, dass ab sofort das Verlassen der Wohnungen nur noch in dringenden Fällen gestattet ist. Gottesdienstliches Leben läuft (in allen drei Religionen) auf Sparflamme – interessanterweise ist die Obergrenze zehn, also die Zahl, die bestimmte jüdische Gebete als Quorum erfordern. Sport, so ergab der Check der neuen Bestimmungen, ist vorerst noch so ein "dringender Fall", in Kleinstgruppen von maximal fünf Personen und mit zwei Metern Abstand. Ungeklärt bleibt die Frage, ob Frauen – anders als bei den jüdischen Gebetsquoren – dabei zählen oder nicht :-)


Inzwischen hat sich eine Art Home-Office-Alltag eingependelt, der allabendlich mit der "Fernsehansprache" von Benjamin Netanjahu zu den neuesten Maßnahmen endet. Es ist schwer, sich des Gefühls zu erwehren, dass bestimmte Personen hier politisches Kapital aus der Krise schlagen. Fast drei Wochen nach den dritten Neuwahlen innerhalb eines Jahres gibt es immer noch keine neue Regierung, werden das Parlament und die Justiz quasi lahmgelegt und (mit erschreckender Akzeptanz der Zivilgesellschaft) Schritte zu einer unkontrollierten Überwachung von Coronavirusbetroffenen eingeleitet. Dass trotz weitreichender Einschränkungen dagegen Menschen auf die Straße gehen (bzw. in diesem Fall wohl eher: fahren), ist ein kleiner Lichtblick.


Die Botschaft sammelt inzwischen Adressen von Deutschen, die im Fall einer vollständigen Grenzschließung ausgeflogen werden wollen. Freiwillige in den deutschen Einrichtungen wie der Schmidtschule und dem Paulushaus wurden am Donnerstag ausgeflogen, darunter leider auch meine Katzenhüterin. Ausländer kommen nicht mehr ins Land (mit Ausnahme von Angeheirateten, Diplomaten und anderen, deren Lebensmittelpunkt nachweislich in Israel ist). Israelis dürfen nicht mehr über die Landgrenzen ausreisen, der Flugverkehr ist sehr stark reduziert. Für die palästinensischen Gebiete gilt der Ausnahmezustand, Bethlehem und Region sind völlig abgeriegelt, obwohl zuletzt mitgeteilt wurde, dass Journalisten Bewegungsfreiheit auch dort gewährt werden solle. Die Rückkehr nach Israel würde allerdings schwierig, von erneuter Quarantänepflicht mal abgesehen.
 
Ansonsten (und ich hoffe, es klingt nicht zynisch): Die gesamte Woche im "Freigang" begleitete mich das Gefühl, dass die gegenwärtige Situation Jerusalem gut tut. Die Stadt atmet förmlich auf, von den Menschen- und Automassen befreit. Der Himmel ist so klar wie sonst nie, die Luft spürbar besser, die Stille ein Genuss. Freunde rufen häufiger mal an. Die wenigen Menschen, die sich draußen und auf Distanz begegnen, gehen sanft und freundlich miteinander um, sonst nicht gerade ein Charakteristikum der ellbogigen Gesellschaft hier. Grob gesagt, kann man die Menschen hier in Bezug auf Coronaängste in vier Schubladen stecken: Panik und Ignoranz (beides eher Minderheiten), und dann die vermutlich etwa gleichstark vertretenen Haltungen "Sorge, aber ohne Panik" und "Ich halt mich für die anderen dran, auch wenn's mich nicht kümmert". 


Prognosen für die nähere und mittelfristige Zukunft wage ich keine. Diverse private Pläne (Urlaub, Wettbewerbe, Besuche) fielen dem Virus schon zum Opfer, Wochenendausgleiche schiebe ich vor mir her. Angesichts der Nachrichtenlage und Dominanz des Themas fällt es mir schwer, davon abzuschalten und den Kopf frei zu kriegen für andere Themen. Wirklich beunruhigt bin ich allerdings von den "Testläufen", die die israelischen Sicherheitskräfte hier grade an der Altstadt und arabischen Wohnvierteln starten. Zweitweise war gestern die Altstadt (= mein Wohnort) abgeriegelt – und ich befürchte, dass sich das wiederholen und ausweiten könnte. 


Dank Covid-19 habe ich inzwischen Internet zuhause und auch Skype läuft auf dem Laptop. Der Kontakt mit Euch und Ihnen lief und läuft einwandfrei und die fürsorglichen Nachfragen, ob in Jerusalem alles in Ordnung sei, tun gut und können alles in allem mit JA beantwortet werden! Und die Vierbeiner sind höchst zufrieden mit meiner Dauerpräsenz im heimischen Wohnzimmer (dann ist nämlich der Heizstrahler auch auf Dauerbetrieb).

Donnerstag, 30. Januar 2020

Lernen dürfen

Wenn einer ihrer Enkel oder Urenkel einen Durchhänger in der Schule hat, kann Ida Akerman-Tieder das nur schwer verstehen kann. Auch deshalb erzählt die pensionierte Kinderpsychiaterin und Psychoanalytikern ihre Geschichte – damit die Generationen nach ihr verstehen, was es bedeutet, "lernen zu dürfen". 

Lernen zu dürfen, Ärztin zu werden: Ein Traum der heute 92-Jährigen. Und möglicherweise die Kraft, die sie überleben liess. Die in Berlin geborene Jüdin ist 14, als französische Gendarmen ihre Eltern aus dem Dorf Sablet holen, das ihnen als Fluchtort vor den Nationalsozialisten dient. Sie ist 14, als sie realisiert: "Ich bin alleine und machtlos. Alles, was mir bleibt, ist mein Kopf."
Ihre Eltern wird sie nicht wiedersehen. Als Testament aus dem Zug nach Auschwitz hinterließ der Vater die Mahnung, "nicht gegen Gott zu rebellieren, den Schabbat zu halten und gut zueinander zu sein". Nicht gegen Gott rebellierten Ida und ihre Geschwister, wohl aber gegen alle Hindernisse, die man ihnen auch nach dem Krieg auf den Weg legte. Alle drei, Ida, der jüngere Bruder und die ältere Schwester wurden Ärzte.
"Mein Beruf hat mir das Werkzeug zu geben, um an mir selbst zu arbeiten", sagt die 92-Jährige. " Wenn ich leben will, muss ich einen Schnitt machen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit." Damit die Nachgeborenen verstehen, erzählt sie ihre Geschichte, wenn es sein muss, immer wieder.