Freitag, 7. Oktober 2011

Hühner für die Vergebung

Eigentlich liegt Mea Schearim direkt vor meiner Haustür. Noch dazu bietet es am Laufenden Band spannende Fotomotive. Die Anzahl meiner Besuche in der ultraorthodoxen Nachbarschaft lassen sich dennoch an drei Fingern abzählen, und jedes Mal beschleicht mich ein leises Unbehagen. Die "Willkommensschilder" an den Eingängen der "geschlossenen Gesellschaft" sprechen eine Sprache, die nicht ohne Wirkung bleibt. Heute, am Vortag von Yom Kippur, musste es trotzdem sein! 
Mit fortschreitender Stunde drängen sich die Menschen durch die kleinen Gässchen. Schon von weitem nimmt man den intensiven Geruch der unzähligen Hühner wahr, die auf kleinen Plätzen, in eigens errichteten Zelten und manchmal einfach auf dem Trottoir auf ihr unglückliches Schicksal warten: als Stellvertreter für ein sündiges Menschenkind nach einem bizarren Gebetsritual in den Tod geschickt und anschliessend den Armen zum Mahl vorgesetzt zu werden. Kaparot (Entsühnung) heisst das unheimliche Spektakel, vermutlich eines der bizarrsten Rituale, das das Judentum zu bieten hat. Am Morgen vor Yom Kippur nehme man ein weisses, intaktes, lebendes Federvieh – einen Hahn für einen Mann, eine Henne für eine Frau, ein männliches und ein weibliches Tier für eine schwangere Frau, falls das Kind im Leib ein Junge sei. Mittels eines Gebetes übertrage man seine eigenen Missetaten auf das Tier, das sodann – je nach Naturell des Beters kräftig oder zaghaft – dreimal über den Kopf geschwungen wird, während der sündige Mensch dreimal murmelt: "Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht in den Tod, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen." 

Wer ganz streng ist, gibt dem Tier nach vollendeter Sündenübertragung einen kräftigen Schubs in die (kurzfristige) Freiheit, als Symbol dafür, dass es die Altlasten mit sich davon trägt. Sodann wird es wieder eingefangen, mit einem fachmännischen Schnitt durch die Kehle getötet und zum ausbluten Kopfüber in einen metallenen Trichter gestopft. Eine Rupfmaschine tut den Rest, bevor das Tier schliesslich in einer Box auf seinen Letztbestimmungsort wartet.

Die Reaktionen der Beteiligten und Zuschauer sind irgendetwas zwischen skeptisch-neugierig, überzeugt und ängstlich-befremdet. Manch einem ist das Kaparot-Debut anzusehen, auch mit der Einteilung in Männlein und Weiblein nehmen es nicht alle so genau. Beim letzten Huhn wage ich mich zu dicht heran und bekomme ein paar Spritzer ab, zum Glück ist eine Flasche Wasser zu Hand und zwei freundliche Hände, die mir beim Auswaschen helfen...

In Thora und Talmud sucht man den blutigen Brauch vergebens, und auch innerhalb der ultraorthodoxen Community sind die Kaparot nicht unumstritten. Es sei unzulässig, ein Gebot zu erfüllen, indem man eine Sünde begehe, warnen Flugblätter vor der vor allem von Tierschützern kritisierten Praxis. Die Gegendemonstranten sind zwar sicher hübscher anzuschauen als die leidtragenden Tiere, ihre Zahl hält sich aber in Grenzen…

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