Dienstag, 11. Oktober 2011

Mikrokosmos

"Es ist heute schon billiger, und morgen wird es noch billiger." Im Vorbeigehen prüft ein junger Orthodoxer das Angebot an "Sukkot-Zutaten" an den zahlreichen kleinen Strassenständen und ad-hoc-Geschäften. Auf Jiddisch hält er seine Frau über die aktuelle Preisgestaltung telefonisch auf dem Laufenden, ebenso wie die kleinen Jungs ihre Sukkah-Dekorationen – die teilweise verdächtig an Weihnachtsschmuck erinnert – auf Jiddisch anpreisen. Die Stimmung so kurz vor dem nächsten Fest ist eine Mischung aus geschäftig-gestresst und andächtig-zeitlos, wie überhaupt vieles kontrastreich ist. Werbung mit Bildern sucht man vergebens an den Geschäften, dafür werden an diversen Verkaufsbuden grossformatige Hochglanzposter diverser Rabbiner angeboten. Kniebundhosen und Gehröcke erinnern an längst vergangene Zeiten, während ihre Träger ganz selbstverständlich nateltelefonierend durch ihr Viertel laufen. Hat man auf der Strasse den Eindruck, die Bewohner Mea Schearims seien eigentlich ständig in Eile, kann umgekehrt die Auswahl des richtigen Palmzweigs für den Feststrauss ohne weiteres schon mal Stunden in Anspruch nehmen.

Ein Spaziergang durch Mea Schearim ist wie eine Zeitmaschine in eine andere Welt, irgendwie exotisch-faszinierend, aber auch beim zweiten Besuch innert weniger Tage fühle ich mich zumindest anfangs nicht besonders wohl in meiner Haut. Inmitten dem orthodoxen Hang zur Uniformität kann man eigentlich nur auffallen. Selbst die Laubhütten, an denen gerade an allen Ecken geschraubt und gebaut wird, gleichen einander Schwarz und weiss sind die dominierenden "Farben" bei der Kleidung, ab und zu etwas "aufgelockert" durch die kaftanähnlichen Mäntel einer anderen Gruppierung. Es wuselt vor Kindern in allen Alterklassen, und zumindest die Familienzugehörigkeit lässt sich meistens von weitem ablesen – denn in aller Regel stecken die jüngsten wie die Orgelpfeifen in den gleichen Kleidungsstücken, vorzugsweise gestreift oder kariert. Wenn sie nicht schon ganz wie die grossen einen schwarzen Anzug mit weissem Hemd tragen.

Ja keine Fotos, warnt uns ein Passant in vorauseilendem Gehorsam, und auch andere Verhaltensregeln begleiten uns auf Schritt und Tritt – in Form von Anschlägen, Aushängen oder ganz einfach Graffiti an den Hauswänden. "Kleide Dich sittsam, dann wirst Du Ruhe haben", lautet wohl die häufigste Anweisung, gelegentlich mit einer detaillierten Gebrauchsanweisung versehen. Weitere Aushänge in grellen Farben kommen passend zum Fest hinzu: Damit es beim erwarteten Gedränge nicht zu unsittsamen Situationen kommt, werden schlicht die Strassen(seiten) nach Männlein und Weiblein getrennt. Dass das Oberste Gericht diese Form von Geschlechtertrennung im vergangenen Jahr verboten hat, interessiert in der ultraorthodoxen Nachbarschaft scheinbar niemanden. Immerhin: Nicht alle begegnen uns mit Skepsis. Ein ganz berühmter Rebbe gebe sich zum Fest die Ehre, erklärt man uns ein einer Seitengasse volle Begeisterung die aufwändigen Umbauarbeiten – und selbstverständlich sind wir herzlich willkommen, dem besonderen Besuch beizuwohnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen