Mittwoch, 13. Juni 2012

Erfahrungswert

"Hast Du nichts, um den Hals zu bedecken?" Die prompte Frage meines "Kuhhändlers" noch an der Wohnungstür verunsichert mich gleich noch mehr - ohnehin fühle ich mich ob der Abendaufgabe "ultraorthodoxe Hochzeitsfotografin" dezent gestresst. Hilfloses Schulterzucken meinerseits, der ich mir allergrösste Mühe gegeben zu haben gedacht hatte, um meinem Kleiderschrank ein Religiösen-taugliches Outfit zu entlocken. Schon der Anmarschweg zur Wohnung des Freundes im bodenlangen dunklen Rock mit zwei Lagen langarmigen T-Shirts, Socken und geschlossenen Schuhen - und das am späten Nachmittag bei Temperaturen von immerhin noch knapp 30 Grad - gibt einen intensiven Einblick in den Lebensalltag bestimmter Gesellschaftsschichten (sollte frau sich vor diesem Hintergrund gar glücklich schätzen, dass das allzu häufige Verlassen der eigenen vier Wände in ebendiesen Schichten zumindest für Frauen nicht so sehr auf dem Programm steht?). Als noch unpraktischer werden sich Rock und Kopftuch später auf dem Motorrad erweisen. Meine Stressanzeichen wiederum sorgen bei meinem Abendbegleiter (wobei dieser Ausdruck angesichts der strikten Geschlechtertrennung im Raum nur bedingte Gültigkeit beanspruchen darf) für glucksendes Vergnügen. Er hat gut reden, es ist für ihn nicht die erste Veranstaltung dieser Art, und im leuchtend-türkisen Poloshirt als "Papagei unter Pinguinen" aufzufallen, stört ihn nicht im Mindesten.

Die Feier ist, anders als ich dachte, nicht in Mea Shearim, sondern in einer Art Hochzeits-Industriegebiet in Givat Sha'ul, bei der ein Feiersaal an den nächsten zu grenzen scheint und schon bei unsrer Ankunft ein halbes Dutzend Hochzeiten im Gange sind. Wir finden "unsere" Hochzeit relativ schnell, sind aber offenbar deutlich zu früh - sicherheitshalber hat man uns offenbar früher bestellt als den Rest - oder sind einfach alle anderen zu spät? Nach und nach trudeln Gäste und auch Musiker ein (letzteres eher zum Bedauern unsrer Trommelfelle) und verteilen sich entsprechend des Geschlechts auf einen der beiden durch eine Holzbarriere voneinander abgegrenzten Raumteile. Mit ein paar letzten Ratschlägen vom Profi (niemals unter 1600 ISO - vor allem auf die Gruppen kommt es an - lass sie sich selber gruppieren ...) werde ich auf die Frauenseite entlassen, wo inzwischen auch die Braut eingetroffen ist, eingehüllt in einen (für meine Begriffe recht Sahnebaisergleichen) voluminösen "Traum in Weiss". Meine anfängliche Skepsis und der Stress legen sich ziemlich bald, die Damen haben sichtlich Freude am Posieren fürs Bild und die Bräutigamsmutter gibt mir jenseits aller Sprachbarrieren zu verstehen, dass sie sich über mein Dasein freut.


Der Ablauf der ganzen Feier ist ziemlich ungewohnt - wer kommt, nimmt Platz und beginnt zu Essen, eine offizielle Begrüssung, Reden oder Ansprachen gibt es nicht. Nach einer ganzen Weile ziehen sich Braut und Brautmutter zum Gebet aufs Sofa zurück, bis schliesslich in langer Prozession der Bräutigam mit beiden Vätern und andren wichtigen Männern vor die Frauenriege zieht. Der Braut, bis dahin unverschleiert, wird ein erster, transparenter Schleier über das Gesicht gelegt, gefolgt von einem vollkommen undurchsichtigen, weissen Tuch, das Kopf und Schulter bedecken. 
Unter dem (aus temporären Blindheitsgründen wohl auch unabdingbaren) Geleit von Mutter und Schwiegermutter geht es für die junge Dame nach draussen unter den Chuppa genannten Traubaldachin zum eigentlich Akt der Eheschliessung und der Übergabe des Ehevertrags. Siebenmal umkreist die Braut den Bräutigam. Segen und Lobpreisungen werden über den Wein gesprochen, von dem das junge Paar trinkt (das Glas wird, berührungssicher in ein Stück Stoff gewickelt, von der Männer- zur Frauenseite gereicht; um das Trinken zu ermöglichen, darf die Braut kurzfristig ihre Schleier ein kleines Stückchen lüften). Schliesslich das Zerbrechen eines Glases in Erinnerung an den zerstörten Tempel, weitere Segensgebete und das Paar wird wieder nach oben begleitet (wo es für eine knappe halbe Stunde sich selbst und den Gesprächen über die gemeinsame Zukunft überlassen wird). 
Was folgt, als Braut und Bräutigam wieder auf der jeweils für ihr Geschlecht reservierten Saalhälfte eintreffen, sind wilde Tänze, auf Männerseite wohl noch etwas exzessiver, als bei den Damen. Braut respektive Bräutigam werden auf den Schultern bzw. auf Stühlen und Tischen in die Luft gehoben und herumgetragen, bis erste Ermüdungserscheinungen einsetzen. Die Kinder sind nicht so schnell klein zu kriegen und knoten alle Stoffservietten zu einer langen Kette, die als Ersatzleine fürs Seilchenspringen dienen muss - dem sich auch die Braut trotz weitem Kleidaufbau nicht entziehen kann.


Stunden später und gemeinsam geschätzt 1.500 Bilder "reicher" haben wir uns das Glas Wein in einem netten Gartencafé auf dem Heimweg redlich verdient. Ein letztes Mal lege ich auf dem Trottoir einen halben Striptease hin, um die fürs Motorrad angelegte Trainingshose unter dem Rock auszuziehen. Das Abziehen des Kopftuchs auf der Restauranttoilette und die Möglichkeit, endlich wie Arme meiner T-Shirts nach oben schieben zu dürfen, empfinde ich als wahre Befreiung. Und die folgende traumreiche Nacht entpuppt sich als definitiv zu kurz zum Verarbeiten aller Eindrücke!

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