Mit einem Ohr lausche ich dem jungen Mann mit den rotblonden Haaren und den auffallend grünen Augen. Wir stehen vor dem Portal der Siedlung Qiryat Arba bei Hebron und warten auf den Polizeischutz, ohne den wir die Siedlung nicht betreten dürfen. Der junge Rothaarige ist Israeli und Mitglied der Organisation "Breaking the silence" von ehemaligen Soldaten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, von ihrer Realität in der Westbank zu erzählen. Die Tour ist auf Hebräisch, weshalb mein anderes Ohr meinem Begleiter gilt, der unaufhörlich für mich übersetzt. Von Zeit zu Zeit flicht er abstruse Randkommentare in die Übersetzung ein, nur um zu testen, ob ich seinen Ausführungen auch wirklich folge. Seine Laune ist bestens, was sich an der Häufung zynisch-ironischer Bemerkung ablesen lässt; einen kleinen Dämpfer bekommt sie nur, als ein arabischer Strassenhändler ihn auf Hebräisch fragt, ob ich seine Tochter sei (dass der Araber seinen Satz auf das ungläubige Gesicht meines Begleiters hin noch einmal auf Englisch wiederholt, verbessert die Situation nur unwesentlich :-))
Er komme aus einem klassischen linken Milieu, erzählt uns der Rothaarige, und es sei für ihn immer klar gewesen, dass er sich in der Armee engagieren werde. Acht Monate habe man seine Kampfeinheit auf dem Terrain ausgebildet, eine Woche lang schliesslich sei das Thema "Westbank" auf dem Lehrplan gestanden. Vor seiner Stationierung in Hebron, sagt er, habe er nie einen Fuss ins Westjordanland gesetzt. "Nach acht Monaten Kampfausbildung war ich nicht vorbereitet darauf, die Arbeit eines Polizisten zu machen." Die geeignete Grundhaltung, so habe man ihnen bei Dienstantritt erklärt, sei der Wunsch, Terroristen zu töten. Begleitet wurde die Botschaft mit "einem Stapel Fotos getöteter (vermeintlicher) Terroristen".
Der Polizeischutz kommt und wir können unseren Weg durch Qiryat Arba fortsetzen. Ob wir alle Juden sind, will der Wächter am Eingangsgitter wissen. Er habe die strikte Anordnung, keine Nicht-Juden in die Siedlung zu lassen. Vorbei am Grab von Baruch Goldstein geleitet uns das gepanzerte Fahrzeug bis zum anderen Ende der Siedlung, wo wir unsre Weiterfahrt zu den Patriarchengräbern in der Hebroner Altstadt ungeleitet fortsetzen dürfen. Was für ein deprimierender Ort, sagt mein Begleiter, und in der Tat ist die Atmosphäre beinahe gespenstisch. Die Läden in den Strassen rund um die Patriarchengräber sind mit einer Ausnahme geschlossen ("Von Zeit zu Zeit erlaubt die israelische Armee einem Ladenbesitzer zu öffnen", erklärt der Ex-Soldat). Die Zufahrtsstrasse, die die beiden Zonen H1 und H2 miteinander verbinden – für die palästinensische Bevölkerung ein wichtiger Verbindungsweg –, und die laut den entsprechenden Abkommen beiden Bevölkerungsgruppen offenstehen, "ziert" eine Betonbarriere, die einen schmalen Laufweg von dem Rest der Strasse abtrennt. Palästinenser, erklärt unser Guide, dürfen nur diesen schmalen Weg benutzen.
Der Guide führt uns durch die menschenleeren Altstadtgassen, erzählt von regelmässigen Übergriffen der Siedler auf die arabische Bevölkerung und der schrittweisen Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Araber durch israelische Sicherheitskräfte – ausgelöst durch massive Forderungen der Siedler. Anhand einer bunten Karte erklärt er uns die komplexe Aufteilung der Stadt in öffentliche und No-Go-Zonen. Vereinzelt tauchen ein paar palästinensische Jungs auf, die der Gruppe "Palestine"-Armbänder verkaufen wollen. Die Szenerie ist surreal und grenzt ans Absurde. Die Graffiti an den Ladentüren sprechen Bände: "Tod den Arabern", "Hebron für immer", "Religiöser Staat jetzt", "Free Israel" – letzteres mit dicker blauer Farbe über ein grünes "Palestine" gepinselt. Noch einmal werden wir gestoppt, diesmal vom IDF. Ohne Polizeischutz, heisst es, dürfen wir unsren Weg zur extremistischsten der Siedlungen, "Tel Rumeida", nicht fortsetzen. Rund 15 jüdische Familien wohnen dort und machen ihren arabischen Nachbarn das Leben zur Hölle. Ihren Müll entsorgen sie schlicht via Fenster in deren Gärten, und das palästinensische Wohnhaus auf der anderen Strassenseite ist rundherum mit Gittern versehen – zum bitter nötigen Schutz seiner Bewohner vor den Siedlern.
Die Armee, erzählt der Rothaarige, hat die strikte Anweisung, nicht gegen Juden vorzugehen, inklusive der Siedler. Im Konfliktfall, erklärt er, müssen die Soldaten die Polizei rufen. Die in vielen Fällen, etwa bei Angriffen von Siedlern auf palästinensische Bauern auf irgendwelchen entlegenen Hügeln, erst gar nicht kommt. Mit vielen konkreten Beispielen aus seiner eigenen Zeit in den "Territories" und aus Zeugnissen anderer Soldaten schildert er das Dilemma anschaulich. "Glaubt bloss nicht, dass das nur in Hebron so ist, Hebron ist einfach ein Beispiel, aber die selben Situationen wiederholen sich täglich überall in der Westbank", insistiert er. Die eigentliche Macht auf dem besetzten Gebiet sind die Siedler, so die zwangsläufige Schlussfolgerung, die sich ihrer Marionetten Armee und Polizei bedienen, wann immer es hilfreich ist. "Aber", insistiert der Rothaarige ebenso fest, "es ist nicht nur die Schuld der Siedler. Politik und Sicherheitskräfte haben den heutigen Zustand überhaupt erst ermöglicht!"
Durch die leeren Strassen – kein Palästinenser hat das Recht, hier zu fahren – geht es zurück zu den Patriarchengräbern und raus aus der Geisterstadt. "Was für ein deprimierender Ort", wiederholt mein Begleiter. Dabei, erwidere ich mit Blick auf die beeindruckenden Bauwerke in der Altstadt, muss Hebron mal eine wunderschöne Stadt gewesen sein. Vor allem der heute verwaiste Markt muss in früheren Tagen eine Augenweide gewesen sein, wie sie sich nur schwer noch erahnen lässt. "Du hast den israelischen Verdienst nicht verstanden!" Mein Begleiter hat seinen Zynismus wiedergefunden. "Wir haben eine ganz neue Ästhetik nach Hebron gebracht: die Ästhetik der geschlossenen Geschäfte."
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