Montag, 4. Oktober 2010

Schattenseiten

Meine Nachbarn laden mich zum Tee ein. Drei Generationen wohnen unter einem Dach. Das Leben spielt sich viel in dem kleinen Vorhof ab. Hier wird gespielt, gesessen, Tee getrunken. Weil es das Klima erlaubt. Aber auch, weil die Familie in einer kleinen Wohnung mit nur einem Fenster wohnt. Seit über vierzig Jahren, und seit fünfzehn Jahren hoffen sie, über die Kustodie an eine bessere Wohnung zu gelangen. Was geht wohl in ihnen vor, wenn ich, die Fremde, ganz für mich alleine eine grosse Dachwohnung mit Terrasse beziehe, die sicherlich doppelt so gross ist als die ihre? Oder wenn sie hören, dass 68 andere Familien gerade ihre grosse, schöne und vor allem bezahlbare Neubauwohnung beziehen?
Das Glück der einen und der Frust der anderen liegen hier nah beieinander. Besonders verbittert ist der Grossvater: Ob ich die Familien in Betfage gesehen habe, will er wissen. Auch ihre Autos? Diejenigen, die dort wohnen werden, verdienen genug, um sich anderswo eine gute Wohnung leisten zu können, lautet der Tenor. Wer hat, dem wird gegeben, und den wirklich Armen, die vor der Kustodie warten, um ihre Sicht der Dinge darzulegen, denen hört keiner zu. Wie viel von der Klage ist Frust, und wo liegt der wahre Kern? Es ist schwierig, sich hier ein eigenes Bild zu machen, denke ich – und traue mich nicht so recht, meine Nachbarn zum Gegenbesuch einzuladen.

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