In der Nacht sind Schüsse und ein paar Explosionen in der Ferne zu hören. Da die Schwestern friedlich weiterschlafen und sich auch sonst keiner in der Nachbarschaft rührt, scheint es sich um keinen gravierenden Zwischenfall zu handeln. Ich versuche zu schlafen. Um sechs geht mein Bus nach Damaskus. Dachte ich. Fälschlicherweise. Die Abfahrt war um Viertel vor sechs, wie Schwester Lina und ich fünf vor sechs feststellen. Zum Glück verspricht der Fahrer, in Homs auf mich zu warten, und das Taxi von Zaidal nach Homs ist schnell. Nach einer unruhigen Nacht scheint mir der Blick des Soldaten, der am Ortseingang meinen Pass fordert, umso finsterer, und die Rangelei am Strassenrand, deren Zeuge wir werden, trägt nicht zur Entspannung bei. Immerhin, der Fahrer hat sein Versprechen gehalten. Unter dem leicht genervten Blick der anderen Reisenden klettere ich in den vollen Bus, in der inständigen Hoffnung, dass ich als Ausländerin an den zu erwartenden unzähligen Kontrollen kein erneutet Verzögerungsgrund für den ganzen Bus sein möge. Fairuz singt aus dem Radio. Vertraute Klänge, die mich entspannen lassen. An die 180km/h von Michels Golf kommt der Bus nicht ran, was mir nicht unrecht ist. Die Kontrollen in Richtung Damaskus sind dafür deutlich weniger, so dass der Bus unterm Strich durchaus mithalten kann. Im Umgang mit den Soldaten scheint jeder so seine eigene Art zu haben - der Fahrer von heute hat eine grosse Kanne Kaffee dabei, die er grosszügig verteilt.
Am Bab Touma, dem Eingang zum christlichen Altstadtviertel Damaskus' steige ich aus und tauche in eine andere Welt. Immer noch ist das Militär präsent, dazwischen aber herrscht, von aussen betrachtet, dasselbe wuselige Treiben wie bei meinem letzten Besuch vor 8 Jahren. Ich liefere einen Brief aus Beirut bei den Franziskanern ab und beziehe mein Quartier unweit der Altstadt.
Dann mache mich mit Schwester Yola zurück auf den Weg nach Bab Touma. Fadia, Medienstudentin aus Damaskus und Freundin eines Freundes, hat sich angeboten, mich durch die Stadt zu führen. "Ich will dir mein Damaskus zeigen", sagt sie, "mein Damakus, das man riechen, schmecken, hören und fühlen muss!" Stolz und Trauer liegen in ihrer Stimme. "Ich liebe mein Damaskus, und deshalb tut es so weh" - den Satz wird Fadia heute noch manches Mal wiederholen.
Fadias Damaskus, das ist das süsse Brot der Orthodoxen, die geeiste Zitronenlimonade aus dem alteingesessenen Laden, vor dem die Leute ebenso Schlange stehen wie vor dem Bäcker mit den besten Käse- und Schokoladencroissants. Es ist der Klangteppich im überdeckten Souk und der abendliche Wind in den Blättern. Das wirtschaftliche Zentrum und das schier endlose Sammelsurium von Antikem und Kuriosem im Ghazi-Palast, die kaum zwei Schultern breiten Seitengassen, in die sich verliebte Pärchen gern zurückziehen. Der Duft von frischem Kaffee und der Ladenbesitzer, der seine letzten Fremdsprachenkenntnisse hervorkramt, um mich in seinem Land willkommen zu heissen. Fairuz aus dem Radio der gut besuchten Shisha-Bar.
Mit jedem Schritt wird Fadias liebevoller und kritisch-optimistischer Blick auf ihre Stadt Teil "meines" Damaskus. Wo immer uns Menschen ansprechen, ist Fadia ganz Ohr, fast so, als sammle sie die Geschichten, die die Stadt ihr erzählt.
Mit der wohl traurigsten von ihnen beschliessen wir den Tag: Besuch in der Familie von Reem, die bei Verteidigungskämpfen vor Damaskus an einem Tag den Mann und den Schwager verloren hat. Die jüngste Tochter Reems ist zwei Wochen später geboren. Ihr Name ist Sham, der Name, den die Bewohner Damaskus gegeben haben.
Zurück im Konvent, sinke ich in den Sessel an der Rezeption und kann die Tränen nicht zurückhalten. "Wie oft kann ein Mensch für sein Vaterland sterben", hat Fadia gesagt. Und: "Ich bin in den letzten fünf Jahren oft gestorben."