"Zu was für einer Demo willst Du?", fragt mich ein arabischer Nachbar in der Strasse - der Protest gegen zu hohe Mieten, Lebensmittelpreise, niedrige Löhne und anderes dauert seit nun mehr 7 Wochen an, aber in der Jerusalemer Altstadt ist er nicht angekommen. "Tel Aviv? Für Gerechtigkeit? Du glaubst doch nicht, dass das was ändert!" Anders auf der "anderen Seite": Schon im Taxi nach Tel Aviv gibt es nur noch ein Gesprächsthema, den "Marsch der Million", der an diesem Samstagabend durch die Straßen der Metropole führen soll. Kaum aus dem Sherut, nimmt mich eine Gruppe israelischer Hobbyfotographen in Beschlag: "Du bist doch entsprechend ausgestattet, also komm mit!" Ehe ich's mich versehe, werde ich in den Sozius eines uralt-Motorrads gesteckt, den Sohn des Fahres mit Totenkopfhelm auf meinen Knien. Was folgt, ist sicher die bizarrste Fahrt meines bisherigen Aufenthalts.
Am Rothschildboulevard werde ich abgesetzt, in Begleitung einer der Fotographinnen, die mich unter ihre Fittiche nimmt. Das Bild ist irgendwie surreal: Auf dem als Allee angelegten Mittelstreifens der Prachstrasse sammeln sich Zelte und Hüttchen, ganze Couchgarnituren wurden zum Freilichtwohnzimmer umfunktioniert, und kreative Geister haben gar Schrebergärten im Miniformat angelegt. Es strömt allmählich zum Versammlungsplatz, und mit schwindendem Tageslicht drängt meine Begleiterin zur Eile. Rechts und links des Wegs werden Plakate gebastelt, Musikgruppen spielen sich warm und eine Gruppe Hassidim hat sich fröhlich-singend zum Gebet versammelt.
Die angestrebte Million ist es nicht, die ihrem Unmut über die sozialen Ungerechtigkeiten im Land ihren Ausdruck verleiht, aber die Stimmung ist euphorisch. Trommelgruppen heizen ein, und als Instrument dient, was immer grade zur Hand ist: Topfdeckel, Zitronenpresse, Kochlöffel. Bunt geschmückte Kinderwagen konkurrieren mit kreativen Transparenten und T-Shirts, die Stimmung gleicht einem riesigen Volksfest. Das Publikum ist bunt, Studenten, Linke, junge Familien, aber auch ältere Semester und ein paar Grosseltern mit ihren Enkeln. Für das leibliche Wohl auf der Route ist dank kleiner Verkaufsstände gesorgt, und ein besonders findiger Kioskbesitzers bietet Zigaretten diverser Marken im Einzelverkauf an - das passende Feuerzeug baumelt im Eingang von der Decke. Erst auf dem Rückweg (im Auto eines zufällig in der Menge entdeckten Kollegen) fällt mir auf, dass ich das Taxi auf dem Hinweg zu zahlen vergass...
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