Samstag, 31. Dezember 2011

Welten-Reise

 Ezra sammelt uns mit seinem Jeep am Rande eines Beduinenlagers unterhalb einer jüdischen Siedlung ein. Ezra ist Jude und Israeli, stammt aus dem Irak und arbeitet für eine israelische Organisation, die den Beduinen gegen drohende Vertreibung oder Hauszerstörungen zu helfen versucht. Ezra spricht arabisch als Muttersprache und bewegt sich in den Beduinendörfern, als wäre er Teil der Stammes-Familien.

Ein Smalltalk am Wegrand, eine herzliche Umarmung, Luftballons für die zahlreichen Kinder. Und überall wo wir hinkommen das unvermeidliche Tee-Ritual.Die Beduinen, erklärt uns unser Guide, sind in jeder Hinsicht diskriminiert. Den jüdischen Siedlern, die sich auf dem ehemaligen Stammesland niedergelassen haben, sind sie ein Dorn im Auge, und auch in der palästinensischen Gesellschaft sind sie Bürger zweiter Klasse. Es mangelt an Land für die wachsende Bevölkerung, und es mangelt an Respekt für den traditionellen Lebensstil der Beduinen. Diese Menschen, sagt Ezra, haben als freie Menschen ohne Grenzen gelebt. Sie haben die Grenzen nicht gemacht, müssen aber nun mit ihnen leben.

 Wir kommen mit Ezra, und so sind auch wir fast Teil der Familie. Die Frauen, sonst bei fremden Besuch unsichtbar in ihren Zelten oder Hütten, begrüssen mich mit herzlichen Umarmungen und laden mich zum Tee in den Küchenbereich. 

Nur schwer können wir uns loseisen, aber Ezra will weiter, uns ein weiteres Beduinendorf zeigen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu einer (gutabgeriegelten) jüdischen Siedlung sind der Kontrast im Lebensstil und die Spannungen im alltäglichen Neben- und Gegeneinander greifbar. Daneben kleine Funken Hoffnung: Ein paar Juden und Araber bauen zusammen an einem Fussballfeld für die Beduinenkinder, während die Beduinenjungs ihren jüdischen Kollegen zeigen, wie man ohne Sattel auf einen Esel springt. Ein einsamer Siedler wohnt der ungewohnten Szenerie schweigend-protestierend bei. Der freundlich zur Begrüssung entgegengestreckten Hand seiner Landsleute entzieht er sich wortlos.

Ein paar Kilometer weiter werden wir Zeuge eines absurden Rituals einer ganz anderen Welt. Einige wenige Palästinenser, vis-à-vis einiger weniger israelischer Grenzsoldaten, wobei sich beide Seiten gut zu kennen scheinen (und die Stimmung zwischen beiden nicht im Mindesten aufgeregt ist). Dazwischen eine handvoll anarchistischer Demonstranten diverser Nationalitäten, die lautstark gegen das Unrecht in der Region protestieren. Man bewegt sich in einem gewissen Sicherheitsabstand voneinander, hier und dort kommt es zu leichtem Körperkontakt zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, es folgen ein paar obligatorische Photo-Posen (Palästinenserfahne, Keffiye, Soldat), und die "Demonstration" ist beendet. Fast erwartete man, dass sich die beiden Parteien per Handschlag voneinander verabschieden, bis zum nächsten Mal.
Ein Abstecher in die jüdische Sieldung Tekoa, und es folgt die letzte Station des Tages: Die Olivenhaine zwischen Beit Jala und Cremisan. Eine handvoll Christen und ein paar Ausländer versammeln sich hier seit drei Monaten zur wöchentlichen Freiluftmesse gegen den geplanten Mauerbau, der das mehrheitlich christliche Dorf von weiten Teilen seines Ackerlandes abtrennen würde, für das Nachbardorf Walajah bereits bittere Realität. Keine zwölf Stunden waren wir so unterwegs, und die zurückgelegten Distanzen in dem ohnehin kleinen Land sind eigentlich lächerlich. Mental aber war dieser Tag eine Welten-Reise.

Freitag, 30. Dezember 2011

Montag, 26. Dezember 2011

open and safe

"Israel is a democratic, Western, liberal state.  The public sphere is open and safe for everyone – men and women alike.  There is no place for harassment or discrimination."
Benjamin Netanyahu zum Auftakt der sonntäglichen Kabinettssitzung (25. Dezember)

Samstag, 24. Dezember 2011

Ausnahmezustand

Für die Taxifahrer am Bethlehem-Checkpoint ist es kein guter Tag. Schon Stunden vor dem geplanten Einzug des Lateinischen Patriarchen und seines Konvois sind die Zufahrtsstrassen zum Checkpoint gesperrt, Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge säumen den Weg. Auch, wer seinen Weg zu Fuss in Richtung Krippenplatz fortsetzt, kann die seltsame Atmosphäre spüren. Überall Bewaffnete, rund um den Checkpoint israelische Soldaten, weiter in Richtung Stadt dann palästinensische Sicherheitskräfte. Viele Strassen sind menschenleer, was sich schlagartig ändert, je näher man dem Ort des Geschehens kommt. Weihnachtsdeko in den schrillsten Farben blinkt um die Wette, am Fuss des Krippenplatzes sammeln sich lautstark die Scouts mit ihren Trommeln und Dudelsäcken. Die Wege des Konvois sind schon jetzt von Menschenmengen gesäumt. Es ist die übliche Mischung aus Weihnachtsrummel und Volksfest, nur im Medienzentrum herrscht noch einigermassen Ruhe.
 "Can I see you presscard?" Die junge Dame am Empfang ist schon anfangs nicht unbedingt freundlich, aber als ich meine israelische Pressekarte hervorziehe, versteinert sich ihre Miene. Die ist hier nicht gültig, "this is Palestine", schnauzt sich mich an. Ohne palästinensische Pressekarte kein Zugang zum Medienzentrum, keine Diskussion. Die letzten beiden Jahre sei das nie ein Problem gewesen, versuche ich zu argumentieren, ausserdem könne ich zwanzig Minuten meine Akkreditierung der Franziskaner abholen und ihr vorzeigen. "This is only the religious thing", antwortet sie scharf, das interessiere sich nicht (immerhin sind wir hier, um über Weihnachten zu berichten...). "This is Palestine, and if you come to a state, you have to apply for the presscard! We changed our policy this year." Ok, wusste ich nicht, versuche ich es auf die sanfte Tour, aber auch das "kann nicht sein, wir haben schliesslich zwei Mails verschickt." Die bei mir nicht angekommen sind, meine Entschuldigung. Wie auch, ich bin ja nicht akkreditiert, ihre Reaktion. Wir drehen uns im Kreis. Sie greift zum Telefon. Nach ein paar Minuten kommt sie wieder, eine Spur freundlicher und mit einem Formular für die Akkreditierung für die palästinensische Pressekarte in der Hand. Vor ihren Augen darf ich das Formular ausfüllen und abliefern und sie macht "für dieses eine Mal" eine Ausnahme für mich. Ich darf bleiben und arbeiten. In der Zwischenzeit ist meine Franziskanerakkreditierung eingetroffen, die ich ihr der Form halber dann doch vorzeige. "Warum hast Du das nicht gleich gesagt, dass Du von der Franziskanercrew bist" (ich hüte mich tunlichst, diese kleine Ungenauigkeit zu berichtigen) - "das ist die einzige Gruppe, für die eine Ausnahmeregelung gilt!" Nun denn. Im nächsten Jahr dann wohl mit palästinensischer Pressekarte, zur Sicherheit...

Freitag, 23. Dezember 2011

Chanukka II

"Kann mir eigentlich mal jemand erklären, was wir an Chanukka nun eigentlich wirklich feiern? Ich habe diese Woche so viele Erklärungen gehört und irgendwie nicht mal die Hälfte verstanden!" Die beiden Jüdinnen am Tisch setzen an, das Ölwunder im Tempel zu erklären, aber der (ebenfalls jüdische) Fragesteller gibt sich nicht zufrieden. "Ich dachte, das sei alles eine nette, aber späte Legende!" Korrekt, wirft die Protestantin ein. Steht alles im Buch der Makkabäer, und sie beginnt mit der Geschichte der Unabhängigkeitskämpfe der Juden gegen die hellenistischen Seleukiden. Fragende Gesichter in der jüdischen Runde. Makkabäerbuch? Das Buch hat nicht Eingang gefunden in den Tanach, erklärt die Protestantin. Dafür ist es Teil der "katholischen" Bibel, ergänzt die Katholikin. Es folgen lange Ausführungen zu den Makkabäerbücher, Flavius Josephus und archäologischen Ausgrabungen, zur jüdischen Geschichte überhaupt. Die beiden Christinnen schauen sich an: "Wird Zeit, dass wir Euch mal eine Einheitsübersetzung der Bibel schenken - als Mitbringsel zum nächsten Schabbt-Essen vielleicht!"

Chanukka

In Fett Gebackenes steht dieser Tage auf vielen Speiseplänen, in Erinnerung an das Ölwunder von Chanukka. Sufganiot heisst die jüdische Variante der "Berliner", und ob der teils oppulenten Füllung stellt sich dem Geniesser die Frage, was nun schwieriger sein mag: Den Namen richtig auszusprechen, oder das Gebäck ohne Schaden an Mensch und Umwelt zu verzehren...

Montag, 19. Dezember 2011

Good Morning Israel

"Good morning, Israel. You've woken up? Years of rioting against Palestinians, uprooting of trees, vandalism, arson, destruction, dispossession, theft, rocks and axes didn't cause a ripple here. But one rock to the head of a deputy brigade commander, Lt. Col. Tzur Harpaz, made all the difference.
An all-out riot. Jewish terrorism. There are militias in the West Bank, settler-terrorists in a no-man's-land. And all this due to a rock that drew a few drops of sacred Jewish blood. Here they are again: arrogance and nationalist ideology."
Gideon Levy, Haaretz (18. Dezember)

Montag, 12. Dezember 2011

Die Frage


Das arabische Scrabble im jüdischen Spielwarengeschäft inmitten der Westjerusalemer Einkaufsstrasse fesselt unsere Aufmerksamkeit. Wer seine Kunden sind, will mein Begleiter wissen, und schon entspannt sich ein Gespräch in dem für diese Stadt so typischen Sprachenwirrwarr. Mein Begleiter mit dem Inhaberehepaar auf Hebräisch, die Inhaber mit mir auf Deutsch, ich mit meinem Begleiter Französisch und als "common language" schliesslich noch ein wenig Englisch. "Wie lange bist Du schon hier und was machst Du?" - Harmloser Smalltalk. Bis zu meiner Antwort: "Journalistin." Da war sie, die Frage, die ich doch so sehr zu vermeiden suche: "Und - was denkst Du von diesem Land?" Ich schlage mich tapfer im Kreuzverhör mit dem Ladenbesitzer, während dessen Frau mit meinem Begleiter über die potentiellen Kunden für ein arabisches Scrabble diskutieren. Auf einmal habe ich alle Aufmerksamkeit. Die Frau holt weit aus. Während langer Zeit, erklärt sie, habe das Logo ihres Familiengeschäfts eine Frau mit zwei Fahnen gezeigt, eine für die Juden, eine für die Araber (ich nehme an, dies ist als Zeichen der Toleranz gegenüber dem Nachbarn zu werten?). Und was sie mir jetzt sage, sei schwer: Der einfache Araber wolle in Frieden leben, das sei schon klar, aber das sei eine Frage der DNA. Araber könnten töten. Jeder Mensch kann töten, wende ich ein, aber die Frau verweist auf Syrien und Irak und ist von ihrer Gewissheit nicht abzubringen: Ein Araber tötet einfach schneller, erblich bedingt. Vermutlich war mir in diesem Moment deutlich im Gesicht abzulesen, was ich (manchmal) von diesem Land denke...

existential war

"I have not lost hope. I wake up in the morning, and God says to me, 'David, put on your tefillin and go to work. Don’t give up.' (...) He is pressuring me not to give up, to believe that I can contribute, not to stop believing that things can change, to get out of the war. It’s an existential war for me. What is happening today with religion is more dangerous than what’s happening with the Arabs. The Arabs want to kill my body – the Jews are killing my soul."
Rabbi David Hartman in einem Interview mit Ynet-News (12. Dezember)

Samstag, 10. Dezember 2011

Immer wieder Jesus

"Jesus fucking Christ". Das Erschrecken über ihren spontanen Ausspruch steht der englischen Jüdin ins Gesicht geschrieben. Breites Grinsen in der jüdischen Runde, irritierte Blicke bei den vereinzelten Christen. Die Entschuldigung folgt unmittelbar.
"I want to meet my Jesus...", heisst es in der zweiten Strophe eines Gospels aus dem aktuellen Chorprogramm. Zumindest im Original. Unsere Fassung wurde in "I want to meet my maker" umgeändert, nach einer langen Diskussion zwischen ein paar Ensemble-Mitgliedern, ob man auch als Jude am Originaltext festhalten könne. Der Kompromiss-Vorschlag - analog zur ersten Strophe (I want to meet my mother) Jesus durch "father" zu ersetzen, fand keinen Anklang: Tönt zu sehr nach Maria und Joseph und ist damit keinen Deut "besser" als Jesus... Zur Aufführung kommt die Variation übrigens in einer Kirche.
Beim Weihnachtslieder-Konzert (!) am 24. Dezember (!!) wird es diese Diskussionen nicht geben - der Bachsche "Weihnachtsklassiker" "Oh Haupt voll Blut und Wunden" wurde in weiser Vorraussicht mit "leichten" Textänderungen ins Hebräische übertragen: Aus dem dornengekrönten Haupte werden da, ganz biblisch, der Wolf, der beim Lamme wohnt und der Knabe, der sie hütet. Das interreligiöse Miteinander ist und bleibt eine heikle Gradwanderung.

Freitag, 9. Dezember 2011

Montag, 5. Dezember 2011

Heilig

"Why do many of the ultra-orthodox not understand that the attempt to suppress women – suppress their voice, the way they look, their presence in public life – is liable to cause most of the Israeli public (including the religious and many ultra-orthodox) to go crazy?  Because we did not tell them – in a loud and clear voice – that it is sacred to us.  It is not just another small and aggravating abuse to which we have already become accustomed to.  The State of Israel will not exist, cannot exist, must not exist – to the exclusion of women from public life.  The ultra-orthodox must know that they are playing with fire.  Women's equality is sacred to Israel, and with what is sacred to Israel, no one can play with."
Kommentar der Tageszeitung Yediot Ahranot (5. Dezember)

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Oh God

"Ten months after the great Arab uprising began, the picture is clear - Allah won. The Google boys are gone. The liberal intellectuals are gone. Those who promised us liberty, equality and fraternity are gone. We didn't get the American Revolution of 1776 or the French Revolution of 1789. We didn't even get Eastern Europe's Velvet Revolution of 1989. The Arab revolution of 2011 is a religious revolution. The power replacing the secular dictatorships of the corrupt Arab officers is Islam. No Martin Luther King is on the horizon, no Mahatma Gandhi and no Vaclav Havel (...)
But Allah is not alone. The mighty God of Israel is also coming back. He is back in the edict that a firing squad is better than women singing. He is back in the ban on displaying women's pictures in public; in the segregation between male and female in every public place. Jewish fanatics are launching a frontal attack on the minority, the individual and human rights. They are beleaguering the Supreme Court, the free media and open society (...) While Arab modernity is collapsing, Israeli modernity is cracking. God is back. God is spewing sparks. Oh God."
Ari Shavit in einem Haaretz-Kommentar (1. Dezember)

Mittwoch, 30. November 2011

Knesset-Knigge

Eine Einführung ins korrekte Essen mit Messer und Gabel, eine Lektion zur (Nicht-)Verwendung von Schimpfworten in der Öffentlichkeit, Grundregeln für den Umgang mit Mobiltelefonen in Gesprächen oder Sitzungen: Nach offenbar peinlichen Zwischenfällen schickt Israel sein Parlament in die Benimm-Schule. Kommentar von Knigge-Trainerin Tami Lancut Leibovitz: In anderen Ländern lernt man so etwas in der Schule. Erste Unterrichtseinheit ist übrigens am 6. Dezember … "wenn du nicht brav bist, kommt der Knecht Ruprecht statt dem Nikolaus". Oder so ähnlich.

Law and Order

"A normal country does not shoot itself in the foot (…) Freezing the funds for the Palestinian Authority is, over time, this kind of shooting – if not in the head, then at least in the foot."
Aus einem Kommentar der Tageszeitung "Yediot Ahronot" (30. November) zur Blockade palästinensischer Steuergelder durch Israel. Der Autor ist der Meinung, dass Israel ein Interesse an der Palästinensischen Autonomiebehörde haben sollte, um "law and order" jenseits des Sicherheitswalls aufrechtzuerhalten.

Dienstag, 29. November 2011

Mischung unerwünscht

Du sollst kein aus zweierlei Fäden gewebtes Kleid anlegen. Heisst es in der Bibel, genauer Levitikus 19:19. Aus diesem Grund erwägt das Jerusalemer Rabbinat nun ein Koscher-Zertifikat für Kleidung. Ausgezeichnet werden sollen jene Geschäfte, die nachgewiesener Massen keine Woll-Leinen-Mischungen verkaufen, etwa Kleidungsstücke aus Wolle, die mit Leinengarn zusammengenäht sind. Schliesslich käme es einer wahrhaft frommen Person auch nicht in den Sinn, ein Restaurant zu betreten, das über kein Koscher-Zertifikat verfügt. Man sollte das ganze nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn, wie der zuständige Rabbiner betonte, sagen schon die Weisen, dass das Gebet desjenigen nicht erhört werde, der ein Kleid aus "zweierlei Fäden" trage…

Freitag, 25. November 2011

Anpassung

"Wir waren immer stolz auf uns als einzige Demokratie im Nahen Osten. Jetzt wollen die arabischen Staaten demokratisch werden und wir bewegen uns hin zur Diktatur."
Zipi Livni, Chefin der Oppositionspartei Kadima, am Mittwoch in der Knesset zu einigen umstrittenen neuen Gesetzesentwürfen, darunter ein neues Verleumdungsgesetz

Donnerstag, 24. November 2011

Ansichtssache

"Ivrit?" Ich schüttle den Kopf, "deutsch". Erstaunen bei meinem Gegenüber. "Aber Jüdin?!" Die Art, wie der junge Polizist die Frage formuliert, hat fast etwas Rhetorisches. Erneutes Kopfschütteln meinerseits, gefolgt von einem ungläubigen Kopfschütteln seinerseits. "But you look so religious!" Schulterzucken meinerseits. (Unabhängig davon, ob das auf mich zutrifft: Können nur Jüdinnen religiös sein?) "You look really nice, so beautiful, Germans always look beautiful. But you look so religious!"

Samstag, 19. November 2011

Crossover total

Der schmale neugotische Kirchbau im Herzen von Bostons Luxuseinkaufsmeile ist gut gefüllt. Die Orgel tönt, ein paar Heilige grüssen aus der Apsis. In den Ablagen der Stuhlrücken stecken rot eingebundene Gebetbücher und die blauen Hymnenbücher der Episcopal Church, Ausgabe 1982. Klingt nach einem ganz normalen Sonntag, nur ist Freitagabend, und gerade entzündet ein Paar in den Sechzigern die Kerzen der großen Menorah vor dem Torahschrein mitten zwischen Altar und Chorgestühl. Baruch atah adonei. Nach der ersten Zeile auf stark amerikanisch eingefärbtem Hebräisch wechselt das Schabbatgebet der jüdischen Reform-Gemeinde ins Englische. 
Der Gottesdienst ist leicht wortlastig, aber die Atmosphäre ist herzlich und einladend. Gitarrenbegleitete Gesänge in bewährt amerikanisch-englisch-hebräischer Mischung wechseln mit gesprochenen Gebeten, NGL à la juive, sozusagen. Thanksgiving, "das von allen Amerikanern ohne Unterschied von Religion oder Ethnie geliebte Fest" stehe vor der Tür, sagt der Rabbiner und lädt seine Gemeinde dazu ein, Dank zu sagen für wichtige und schöne Momente der jüngsten Zeit. Eine Frau in der Reihe vor uns dankt für die Ausweitung der Homosexuellenrechte in Massachusetts, ihre Freundin krault ihr unterdessen den Rücken. Ein Meilenstein, findet auch der Rabbiner, und die Gemeinde stimmt zu. Für den Dialog mit einer der muslimischen Gemeinden der Stadt ("they are very open, we would call them 'reform Islamic congregation'") werden Freiwillige gesucht, ebenso für den nachmittäglichen Vorlesedienst an einer Schule. Herzliche Einladung auch zum Chanukka-Konzert, "the Jewish version of Haendels Messiah and our Jewish contribution to the December holiday season". Schlussegen und noch eine Einladung, diesmal zum anschliessenden Apero. Die Rabbinerin ein paar Sitze vor uns gibt ihrer Freundin einen Kuss. Shabbat shalom!

Freitag, 11. November 2011

Nachwirkungen

John ist aus Alaska, "Christ, aber kein Katholik". Nach Washington ist er zum Marathonlauf gekommen, und beim Frühstück im Hostel kreuzen sich unsre Wege.  John kennt sich erstaunlich gut aus in Sachen Religion, hat zu allem eine Meinung, mit deren Äusserung er die verbliebene Stunde bis zu unsrer Abreise füllt - die Hebräischhausaufgaben ziehen erneut den Kürzeren. John liegt nicht unbedingt mit allen seinen Ansichten auf meiner Wellenlänge, aber er passt auch nicht in die üblichen Schubladen. Mit dem Papst geht er dahingehend überein, dass Frauen kein Mandat für Weiheämter haben. Die sephardische Synagoge auf der Upper Eastside NY verkörpert für ihn eindeutig muslimisch inspirierte Architektur. Es folgt ein historischer Exkurs über die Juden und Muslime in Nordafrika und Südspanien. Sprung zurück in der Zeit, Rom in den 70er Jahren n. Chr., der Titusbogen. Die Geschichte ist so aktuell, sagt John. Die paganen Römer haben den jüdischen Tempel zerstört. Seither ist der Tempelberg eine der heiligsten muslimischen Stätten - und der Nahostkonflikt geboren. Und - endlich kommt John an des Pudels Kern - seither gibt es kein jüdisches Opfer mehr. Wobei wir wieder bei den Christen wären, schließlich braucht es seit Jesus kein weiteres Opfer mehr. Das alles, schließt John, kann doch kein Zufall sein...

Freitag, 4. November 2011

No Go(i)

Besuch an der Klagemauer. Weil ein Feiertag ist, fällt die Kleidung noch ein bisschen angepasster aus: Kleid, Strumphose und Kopfbedeckung, und auch mein Begleiter trägt entgegen jeder Gewohnheit eine Kipa. Wie üblich wuselt es auf dem Platz, Soldatengruppen mischen sich mit Besuchern, Betern, Touristen. Ob wir Israeli seien, fragt uns unvermittelt eine ältere Frau, unter dem Arm allerlei Informationsmaterial. Juden? Selbstverständlich, antwortet mein (jüdischer) Begleiter ohne zu zögern und gleich für mich mit. Ganz überzeugt ist die Frau noch nicht, also folgen eine handvoll Fragen, die rasch den Wissensstand abchecken. Mein Begleiter schlägt sich ganz offenbar passabel, denn unvermittelt kommt die Frau noch ein wenig näher an uns heran und flüstert: "Es gibt viel zuviele Nichtjuden an diesem Ort, vor allem Deutsche." Ein verschwörerischer Blick, und sie lässt uns ziehen. Später am Abend treffen wir sie erneut; diesmal hat sie eine Gruppe Ordensschwestern im Habit in der Mangel...

Donnerstag, 3. November 2011

Routine of dispossession

"Now that Palestine has been recognized by the United Nations' cultural organization, Unesco, it will be no more of a non-state and no less occupied than it was before. Its citizens will be no less unfree than they are today, no less under the yoke of Israeli foreign rule. But their civil disobedience versus Israel, the United States and the Quartet raises the hope that the Palestinians will not return to the negotiating table - because negotiations have become an obstacle to the decolonization process, the essential condition for peace (...)
There is no substitute for the strategy of popular resistance, in which there are no distinguished VIPs watching from the sidelines (and also no more Qassam rockets or other methods that target civilians, which have proven their practical and moral worthlessness ). But not returning to negotiations is an essential step in order to disrupt the routine of dispossession, to which the Quartet is a partner."
Journalistin Amir Hass in einem Haaretz-Beitrag (2. November)

Dienstag, 1. November 2011

"Rav-Qaw" - erster Versuch

Jerusalem hat seit neuestem eine Strassenbahn. Und auch wenn man zumindest im Innenstadtbereich immer noch zu Fuss schneller ist und auch wenn das zugehörige Zahlsystem noch immer nicht in Betrieb ist - ersteres zum Ärger, letzteres zur Freude der Fahrgäste - sollen auch beim Ticketsystem neue Wege gegangen werden. Die bisher üblichen 10-Einheiten-Streifenkarten für den Bus zum Abknipsen (und alle ähnlichen Abonnements in Papierform) sollen durch schicke neue (und wiederaufladbare) Plastikkarten mit Besitzerfoto ersetzt werden. Nennt sich "Rav-Qaw" (רב-קו) und soll für alle Verkehrsmittel brauchbar sein (so denn dann irgendwann das System läuft). 
Um das Gewohnheitstier Mensch zum schnellen Umstieg auf die fortschrittliche Rav-Qaw zu bewegen, haben sich die Beteiligten einen cleveren Schachzug überlegt: "Rav-Qaw" ist kostenlos - sofern man sie in der Einführungsphase ausstellen lässt. Und da beginnt für manch eine(n) das Problem. Schon nur das Antragsformular ist - genau: aussliesslich auf Hebräisch. Im zentralen Busbahnhof weiss schliesslich keiner so recht, welche der vielen Warteschlangen (angesichts der unförmig hin und her drängelnden Menschenmassen ein sehr euphemistisches Wort) nun der Rav-Qaw-Haufen ist. Überall werden grosszügig Wartenummern verteilt, aber nirgendwo gibt es eine Anzeigetafel. Irgendwann habe ich die richtige Menschenansammlung gefunden und mich bis zum Wartenummernverteiler vorgearbeitet - Nummer 440. Etliche Minuten später und knapp einen halben Meter weiter bringt die Frau neben mir in dem Haufen in Erfahrung, welche Nummer gegenwärtig behandelt wird: 90 - bei zwei Kartenausstellern, die nebenbei auch noch jeden Kandidaten vor Ort fotografieren müssen. Derzeit kostenlos oder nicht, meine Geduld reicht an diesem Nachmittag nicht dafür aus und "Rav-Qaw" muss noch ein bisschen warten....

Montag, 31. Oktober 2011

Aller Anfang ...

Schabbatessen bei Freunden. Zwei sind "native Hebrew-Speakers" mit mehr oder weniger ausgeprägten Englisch-, aber ohne ausgefeilte Französischkenntnisse, zwei weiteren wurde Französisch als Muttersprache in die Wiege gelegt, nicht jedoch Englisch als Zweitsprache, und Nummer fünf ist in Ägypten aufgewachsen und spricht passables Französisch mit deutlich arabischem Akzent. Common Language wäre, wäre da nicht ich (Deutsch, Englisch, Französisch), Hebräisch. Da ich nun mal bin, geben sich alle grosse Mühe, mich an der Konversation teilhaben zu lassen - und kommunizieren in einem herrlichen Wirrwarr aus Englisch, Französisch, hebräischen Einsprengseln und zeitweiliger Simultanübersetzung gepaart mit ein paar Worten Deutsch (die die Jeckes-stämmige Israelin aus ihrer Kindheit bewahrt hat). Die Kommunikation wird - typisch orientalisch - dadurch "erleichtert", dass mindestens drei Themen gleichzeitig und in wechselnden Konstellationen quer über den Tisch diskutiert werden. Nach der ersten Flasche Wein steigt der Anteil der hebräischen Worte im Gesprächsverlauf exorbitant an, und spätestens mit der zweiten Flasche ist der Wechsel vollständig vollzogen. Ob ich noch ein Stück Quiche oder einen Schluck Wein möchte - auch die an mich gerichteten Fragen sind inzwischen in Ivrit. Beim Kaffee angekommen und mit dezent schwererer Zunge, wechselt der Sprachduktus in einen neuen Modus - ein Satz auf Hebräisch, simultane Übersetzung durch den Sprecher und schliesslich das ganze ein zweites Mal auf Hebräisch, damit es auch jede(r) verstehe. Jedenfalls ist es am Ende schwer auszumachen, wer grösseren Anteil am drehenden Kopf hat: der Wein oder die Sprache, und ich frage mich, ob es nicht doch einen engeren Zusammenhang zwischen dem schönen französischen Wort "ivre" und Ivrit geben könnte...

Samstag, 29. Oktober 2011

Gemeinsame Interessen

"Why did Israel miss the golden opportunity to let Marwan Barghouti out of prison? (...) Ostensibly, Israel should have a strong interest in liberating Barghouti: Abbas is now 76 years old; his political career is coming to an end, and Barghouti is the only strong candidate who could continue Abbas’s work towards implementing the two-state solution. He would strengthen Fatah at the expense of Hamas. So why didn’t the Netanyahu government liberate Barghouti in the Shalit deal? This would have been a unique opportunity. It would not have required the dramatic act of a presidential pardon that has been suggested in the past and Israel would have gained a strong and reliable partner for negotiation in the future. (...)
Ultimately, Netanyahu and Hamas have one common interest: to keep pragmatic Fatah weak. This is why Hamas didn’t insist on including Barghouti in the Shalit deal. Its leadership knows that Barghouti would give Fatah a resounding victory in the next elections, and therefore prefers him in prison. So does Netanyahu. The greatest danger for him is a strong Palestinian leader who unifies the Palestinian people behind the two-state solution. If Barghouti would be elected Palestinian president with a strong mandate, and would state his commitment to the two-state solution clearly Netanyahu’s true colors would be exposed both to the Israeli electorate and to the international community. 
Carlo Strenger über die verpasste Chance, Marwan Barghouti im Rahmen des Shalit-Deals freizulassen (Haaretz, 28. Oktober)

life sentence

"It was our mistake. It was an Arab mistake as a whole (…) But do they [the Israelis] punish us for this mistake for 64 years?"
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in einem Interview mit dem israelischen Fernsehsender "Channel 2" über die Ablehnung der Uno-Teilungspläne für Israel/Palästina von 1947 durch die arabische Welt

Überlegenheitskomplex

"One Israeli soldier for 1,027 Palestinian prisoners. This equation has fostered more or less the following logic: The life of an Israeli is more valuable than that of a Palestinian. How much more valuable? Much more. In fact, 1,027 times more valuable (...) As it turns out, such price lists and equations reflect the Israeli consciousness and what's inside. In the Israeli consciousness, the relation between the life of a Palestinian and the value of a Jewish Israeli is derived with mathematical certainty, 1:1,027, meaning that an Israeli life is as important as that of 1,027 Palestinians. This equation derives from the way we, not Hamas, view reality: 1,027 Palestinians are worth one Jewish life not because the Palestinians minimize the importance of their own lives, but because we diminish the value of their lives. This is a mirror image of the prejudice we Israelis harbor and which has enabled the immoral activities we have sponsored for dozens of years (...) The Shalit deal is, in fact, a public display of Israel's racist price index. The ceremony occurs every few years, and the index is designed to update the market values of the region's various races. As of October 2011, in the Israeli market, the price of one Jew equals 1,027 Arabs. And the price increases every day."
Alon Idan über den Austausch von Gilad Shalit gegen 1.027 palästinensische Gefangene, Haaretz, 29. Oktober

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Montag, 24. Oktober 2011

Ein kleines Stückchen Stoff

Es ist immer wieder amüsant zu sehen, wieviel Verwirrung ein kleines Stückchen Stoff stiften kann. Im konkreten Fall: Ein Tuch, um das Haupt gebunden, weder aus religiösen noch sonstigen ideologischen Beweggründen, ganz einfach aus Lust & Laune. Das Resultat: verwunderte (arabische) Nachbarn, die auf einmal hebräisch mit mir reden, drei entferntere Bekannte, die mir zur Hochzeit gratulieren, ein näherer Bekannter, der mich fragt, ob ich zum Judentum konvertiere und schlussendlich jemand, der wissen will, ob ich gerade an einer Reportage in einem religiöseren Stadtviertel sitze...

Samstag, 22. Oktober 2011

Männersache

Simchat Torah, Freude über die Torah, heisst das letzte Fest, das den "Festmonat" beschliesst (jetzt ist dann erstmal "Ruh" bis Chanukka im Dezember). Seit dem Mittelalter wird an diesem Tag der Lesezyklus der Tora mit dem letzten Abschnitt des fünften Buches abgeschlossen, um mit dem ersten Abschnitt des ersten Buches von Neuem zu beginnen. Es ist, wie der Name sagt, ein fröhliches Fest, und den ganzen Tag über hört man es überall in der Stadt singen und musizieren, die Kinder bekommen Süssigkeiten geschenkt. Am Abend kommen an verschiedenen Stellen die Menschen zusammen, um mit den Torahrollen Umzüge zu veranstalten und zu tanzen. 
Oder zumindest die Männer, denn Frauen müssen auch in diesem Fall in den meisten Fällen "draussen" bleiben: In den Synagogen auf der Frauenempore oder hinter mehr oder weniger blickdichten Vorhängen (in die die Mädchen mit allen Mitteln - Schlüsseln, Anhängern, Gürtelschnallen - versuchen, kleine Gucklöcher zu ritzen, während andere mittels gefährlich wackelnder Stuhlstapelkonstruktionen über sie hinwegzu linsen versuchen). Auch an der Klagemauer spielt sich das eigentliche Geschehen auf der Männerseite ab. Die Frauen stehen auch hier auf Stühlen, um wenigstens einen Blick auf die Torahrollen zu erhaschen, die sich nicht herumtragen dürfen. Von Zeit zu Zeit "erbarmt" sich ein männliches Wesen, und kommt verstohlen mit einer der Torahrollen dicht genug an die Abtrennung, so dass, wer von den Frauen schnell genug ist, sie für den Bruchteil einer Sekunde berühren kann...

Kalkül

"One Israeli = 1,027 Palestinians − so goes the 'calculus of citizenship' revealed in the prisoner exchange carried out this week between Israel and Hamas. While mathematics is one of the few branches of learning said to be devoid of cultural bias, in this context, the numbers are not above interpretation. From Tel Aviv, the Shalit-Palestinian ratio could confirm the oft-repeated conceit that Israelis value human life more than their Arab neighbors do, thus signifying a 'win' for Israel. From Gaza, the exchange rate could be seen in terms of a soccer match, in which the Palestinians drastically outscored the opposition in a macabre, one-sided victory. In truth, the search for winners and losers among so much human misery borders on the obscene; perhaps the most one can hope for is that some lessons will be learned."
Raymond Barrett fordert in einem Haaretz-Kommentar (21. Oktober) von den Regierungen des "arabischen Frühlings" grösseren Respekt vor dem Leben ihrer eigenen Bürger

Freitag, 21. Oktober 2011

The star of the show

"At the end of the day, in Benjamin Netanyahu’s view Gilad Shalit is no different than the cockpit of a firefighting plane or a Shabbat candle-lighting ceremony with Madonna. Netanyahu believes that in such events he is the star, while the actual reason for the event merely serves as a superb setting for emphasizing his importance, efforts, achievements and the need to have him as prime minister."
Ariana Melamed in einem Kommentar zur Befreiung von Gilad Shalit, Ynet-News (20. Oktober)

Samstag, 15. Oktober 2011

Eins zu Eintausendsiebenunzwanzig

"One versus 1.027. As of this writing, those are the cold, hard numbers of the proposed exchange: one Gilad Shalit for 1.027 Palestinian prisoners. This lopsided equation is, in a raw sense, a point of tribal pride. See how much a Jewish life is worth. See how far the State of Israel will go to rescue one of its own. But a competing interpretation suggests that this unequal calculation is an invitation for yet another brutal kidnapping – what a price you can fetch for an Israeli soldier – and a cautionary tale of what can happen when a single person propelled by an effective public relations effort becomes the focus of collective angst and governmental guilt. This clash between the heart and the head is embodied in essays published elsewhere in the Forward, from a Jerusalem mother who sees in Shalit’s freedom a metaphor for the collective Israeli soul, and from a political scientist who worries about the strategic consequences of the exchange (...) Israelis say that in the more than five years of captivity, Gilad Shalit had become everyone’s son. We will do anything for our children. That’s why the equation was a thousand to one. Pray that the short-term victory in this calculus won’t be transformed into a long-term loss, that heart will win over head if there is a next time."
The Jewish Daily Forward in einem Editorial (13. Oktober) zum Befreiungs-Deal für Gilad Shalit

Freitag, 14. Oktober 2011

Ein Abend mit Jesus

Strategisch günstig hat sich die kleine Gruppe im New Gate positioniert. Auf einem Stein vor dem Eingang zur Altstadt stapeln sich DVDs mit kitschigem Sonnenuntergangsphotos als Cover und der unübersehbaren Aufschrift "Jesus", die von einer eifrigen Koreanerin an arabisch aussehende Passanten verteilt werden. Strassenmission von Christen gehört in Jerusalem nicht unbedingt zum alltäglichen Erleben, also werde ich neugierig. Ob wir arabisch sprechen? Nein, alle mögliche andre Sprachen, aber für Bibellesen reichen die Arabisch-Kenntnisse nicht aus. Kein Problem, postwendend werden wir an den Kollegen auf Missionsposten Nummer Zwei (auf der Innenseite des Tores) verwiesen. "Do you know Jesus?" - die Fragen werden präziser. "Klar", sagt mein Begleiter, etwas unwohl in seiner Haut und schon halb im Gehen. "Really? How do you know him?". So schnell werden wir nicht aus den Fängen gelassen. "I heard about him!". Aha. "But do you really know him??" Die Assistentin steht schon mit einem Bücherstapel bereit. "No, I mean, not personally!" Stirnrunzeln von unsrem Gegenüber. Humor ist nicht grad die Stärke der Missionare. Welche Sprache wir denn nun sprechen? "Hebrew", lasse ich meinen Begleiter antworten, schliesslich besitze ich bereits eine Bibel in meiner Muttersprache. Flugs werden uns zwei Exemplare des Neuen Testaments in die Hand gedrückt, auf Hebräisch, gefolgt von einem Buch über das Leben Jesu, ebenfalls in Ivrit, und einem Flyer mit den Angaben, wohin wir uns bei weiteren Fragen wenden können. Derart ausgestattet, dürfen wir weiterziehen.
Nur ein paar Strassenecken weiter, die frisch erhaltenen Bibeln noch unter dem Arm, folgt die nächste skurille Begegnung: "Jesus"-James, seit knapp fünf Monaten auf privater Mission im Heiligen Land, und fast schon auf dem Absprung nach Indien zur nächsten Station auf seiner Reise. Mit seinem wallenden Haar, dem weissen Gewand und blecken Füssen ist er selbst für das Religionserprobte Jerusalemer Stadtbild eine Ausnahmeerscheinung. Ein Israeli mit einer Bibel unter dem Arm scheint umgekehrt für James ein äusserst erfreulicher Anblick. "Are you coming to Jesus?", die systemimmanent logische Schlussfolgerung. Ein kurzer Moment des Zögerns. "Actually, I am still quite far from that..." Ein Schulterzucken von James, Themenwechsel.

Dienstag, 11. Oktober 2011

Mikrokosmos

"Es ist heute schon billiger, und morgen wird es noch billiger." Im Vorbeigehen prüft ein junger Orthodoxer das Angebot an "Sukkot-Zutaten" an den zahlreichen kleinen Strassenständen und ad-hoc-Geschäften. Auf Jiddisch hält er seine Frau über die aktuelle Preisgestaltung telefonisch auf dem Laufenden, ebenso wie die kleinen Jungs ihre Sukkah-Dekorationen – die teilweise verdächtig an Weihnachtsschmuck erinnert – auf Jiddisch anpreisen. Die Stimmung so kurz vor dem nächsten Fest ist eine Mischung aus geschäftig-gestresst und andächtig-zeitlos, wie überhaupt vieles kontrastreich ist. Werbung mit Bildern sucht man vergebens an den Geschäften, dafür werden an diversen Verkaufsbuden grossformatige Hochglanzposter diverser Rabbiner angeboten. Kniebundhosen und Gehröcke erinnern an längst vergangene Zeiten, während ihre Träger ganz selbstverständlich nateltelefonierend durch ihr Viertel laufen. Hat man auf der Strasse den Eindruck, die Bewohner Mea Schearims seien eigentlich ständig in Eile, kann umgekehrt die Auswahl des richtigen Palmzweigs für den Feststrauss ohne weiteres schon mal Stunden in Anspruch nehmen.

Ein Spaziergang durch Mea Schearim ist wie eine Zeitmaschine in eine andere Welt, irgendwie exotisch-faszinierend, aber auch beim zweiten Besuch innert weniger Tage fühle ich mich zumindest anfangs nicht besonders wohl in meiner Haut. Inmitten dem orthodoxen Hang zur Uniformität kann man eigentlich nur auffallen. Selbst die Laubhütten, an denen gerade an allen Ecken geschraubt und gebaut wird, gleichen einander Schwarz und weiss sind die dominierenden "Farben" bei der Kleidung, ab und zu etwas "aufgelockert" durch die kaftanähnlichen Mäntel einer anderen Gruppierung. Es wuselt vor Kindern in allen Alterklassen, und zumindest die Familienzugehörigkeit lässt sich meistens von weitem ablesen – denn in aller Regel stecken die jüngsten wie die Orgelpfeifen in den gleichen Kleidungsstücken, vorzugsweise gestreift oder kariert. Wenn sie nicht schon ganz wie die grossen einen schwarzen Anzug mit weissem Hemd tragen.

Ja keine Fotos, warnt uns ein Passant in vorauseilendem Gehorsam, und auch andere Verhaltensregeln begleiten uns auf Schritt und Tritt – in Form von Anschlägen, Aushängen oder ganz einfach Graffiti an den Hauswänden. "Kleide Dich sittsam, dann wirst Du Ruhe haben", lautet wohl die häufigste Anweisung, gelegentlich mit einer detaillierten Gebrauchsanweisung versehen. Weitere Aushänge in grellen Farben kommen passend zum Fest hinzu: Damit es beim erwarteten Gedränge nicht zu unsittsamen Situationen kommt, werden schlicht die Strassen(seiten) nach Männlein und Weiblein getrennt. Dass das Oberste Gericht diese Form von Geschlechtertrennung im vergangenen Jahr verboten hat, interessiert in der ultraorthodoxen Nachbarschaft scheinbar niemanden. Immerhin: Nicht alle begegnen uns mit Skepsis. Ein ganz berühmter Rebbe gebe sich zum Fest die Ehre, erklärt man uns ein einer Seitengasse volle Begeisterung die aufwändigen Umbauarbeiten – und selbstverständlich sind wir herzlich willkommen, dem besonderen Besuch beizuwohnen.

Fundstücke VII

Sonntag, 9. Oktober 2011

tolerant-intolerant

"We have recently witnessed attacks on Islamic sites, a Christian site and a Jewish site – a synagogue was attacked. We are not prepared to tolerate any vandalism, especially that directed against religious sensitivities. The State of Israel is both a tolerant state and a very intolerant state. Our tolerance is toward religious sensitivities and our need to continue living together in coexistence and mutual respect, without violence, in tranquillity and peace. Our intolerance is directed toward those who oppose these practices and this way of life."
Benajmin Netanyahu zu Beginn der wöchentlichen Kabinettsitzung

Samstag, 8. Oktober 2011

instant purification

"Worshipping God is too easy, the art of repentance is too cheap. One Yom Kippur will cleanse the sins of an entire year that have become as red as scarlet; white clothing and cloth shoes will cause black stains and rudeness to disappear. The same people who created God in their image are the ones who invented the mechanisms for disinfection, and improved them to suit their own needs (...) When it's still morning we'll abuse a chicken a little - it's our repentance. It's always convenient to send someone else to hell in our place. The automatic washing machine is operating, and into it we'll insert small change for charity, which will avert a wrathful decree. That's the charity that replaces justice - 364 days of injustice are summed up in one day of generosity (...) All the mechanisms and mannerisms are directed at instant purification. Soon we'll eat the pre-fast meal that separates the ordinary weekday from the major fast. Although devout Muslims fast for an entire month, religious Jews get the general idea in one concentrated day of suffering (...) Is only the chicken to blame, and after we circle it around our head, will we be able to return to a good life, only in order to continue with our bad deeds?"
Yossi Sarid in einem Haaretz-Kommentar zu Yom Kippur (7. Oktober)

Freitag, 7. Oktober 2011

Hühner für die Vergebung

Eigentlich liegt Mea Schearim direkt vor meiner Haustür. Noch dazu bietet es am Laufenden Band spannende Fotomotive. Die Anzahl meiner Besuche in der ultraorthodoxen Nachbarschaft lassen sich dennoch an drei Fingern abzählen, und jedes Mal beschleicht mich ein leises Unbehagen. Die "Willkommensschilder" an den Eingängen der "geschlossenen Gesellschaft" sprechen eine Sprache, die nicht ohne Wirkung bleibt. Heute, am Vortag von Yom Kippur, musste es trotzdem sein! 
Mit fortschreitender Stunde drängen sich die Menschen durch die kleinen Gässchen. Schon von weitem nimmt man den intensiven Geruch der unzähligen Hühner wahr, die auf kleinen Plätzen, in eigens errichteten Zelten und manchmal einfach auf dem Trottoir auf ihr unglückliches Schicksal warten: als Stellvertreter für ein sündiges Menschenkind nach einem bizarren Gebetsritual in den Tod geschickt und anschliessend den Armen zum Mahl vorgesetzt zu werden. Kaparot (Entsühnung) heisst das unheimliche Spektakel, vermutlich eines der bizarrsten Rituale, das das Judentum zu bieten hat. Am Morgen vor Yom Kippur nehme man ein weisses, intaktes, lebendes Federvieh – einen Hahn für einen Mann, eine Henne für eine Frau, ein männliches und ein weibliches Tier für eine schwangere Frau, falls das Kind im Leib ein Junge sei. Mittels eines Gebetes übertrage man seine eigenen Missetaten auf das Tier, das sodann – je nach Naturell des Beters kräftig oder zaghaft – dreimal über den Kopf geschwungen wird, während der sündige Mensch dreimal murmelt: "Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht in den Tod, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen." 

Wer ganz streng ist, gibt dem Tier nach vollendeter Sündenübertragung einen kräftigen Schubs in die (kurzfristige) Freiheit, als Symbol dafür, dass es die Altlasten mit sich davon trägt. Sodann wird es wieder eingefangen, mit einem fachmännischen Schnitt durch die Kehle getötet und zum ausbluten Kopfüber in einen metallenen Trichter gestopft. Eine Rupfmaschine tut den Rest, bevor das Tier schliesslich in einer Box auf seinen Letztbestimmungsort wartet.

Die Reaktionen der Beteiligten und Zuschauer sind irgendetwas zwischen skeptisch-neugierig, überzeugt und ängstlich-befremdet. Manch einem ist das Kaparot-Debut anzusehen, auch mit der Einteilung in Männlein und Weiblein nehmen es nicht alle so genau. Beim letzten Huhn wage ich mich zu dicht heran und bekomme ein paar Spritzer ab, zum Glück ist eine Flasche Wasser zu Hand und zwei freundliche Hände, die mir beim Auswaschen helfen...

In Thora und Talmud sucht man den blutigen Brauch vergebens, und auch innerhalb der ultraorthodoxen Community sind die Kaparot nicht unumstritten. Es sei unzulässig, ein Gebot zu erfüllen, indem man eine Sünde begehe, warnen Flugblätter vor der vor allem von Tierschützern kritisierten Praxis. Die Gegendemonstranten sind zwar sicher hübscher anzuschauen als die leidtragenden Tiere, ihre Zahl hält sich aber in Grenzen…

Mittwoch, 5. Oktober 2011

in a normal country

"A bill should be advanced that does not imitate Iran, but rather adopts the European Union standard: summer time beginning on the last Sunday of March and ending on the last Sunday of October. So easy, so simple. In a normal country."
Nehemia Shtrasler in einem Haaretz-Kommentar zur frühen Zeitumstellung in Israel (4. Oktober)

Dienstag, 4. Oktober 2011

so sad

"Diese Gecko-Art gibt es nur hier, in dieser einzigartigen Sanddüne!". Yaels Augen leuchten, wenn sie von ihrem "Forschungsobjekt" erzählt. Zu den Bewohnern der Düne gehören Schlangen wie Sandvipern, seltene Käfer, die mit einer Beinspanne von 14 cm grösste Spinnenart des Landes, Gazellen. Jede Nacht zieht die junge Biologin ausgerüstet mit Stirnlampe, Waage, GPS, Zentimetermass, Scanner und allerlei weiterem Material los, um in der Samar-Düne im südlichen Arava "ihre" Geckos zu beobachten. 
Mehr als dreissig Tiere hat sie markiert für ihr Forschungsprojekt, den ein oder anderen, sagt sie, erkennt sie sogar an der Zeichnung auf dem Rücken. Erwischt sie einen ihrer Schützlinge, werden minutiös Fundort und -zeit festgehalten, der Gecko gewogen und gemessen. Rund sieben Quadratkilometer erstreckte sich die Dünenlandschaft einst entlang der jordanisch-israelischen Grenze. Heute sind es kaum mehr drei, und die wurden soeben per Gerichtsbeschluss zum Sandabbau freigegeben. Ein Teil der Tiere soll umgesiedelt werden, die meisten werden wohl in Forschungsprojekten oder Zoos landen, befürchtet die Biologin. Die "Wüste zum Blühen bringen" wollte Staatsgründer Ben Gurion. Seither scheint das Verhältnis der Israelis zur ursprünglichen Natur ihres Landes dezent gestört.